1774 veröffentlichte Johann Wolfgang Goethe den Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers". Der junge Mann ist in Lotte verliebt, die nach vielen Wendungen letztlich aber den bodenständigen Albert heiratet. Werther schreibt ihr einen letzten Brief, gestaltet seinen Schreibtisch sorgfältig aus und nimmt sich dann - mit Alberts Pistole - das Leben.
Der Roman traf offenbar den Nerv der jungen Generation des Sturm und Drang und inspirierte zahlreiche ähnliche Werke. Zugleich wurde von mehreren Suiziden berichtet, bei denen sich junge Männer und - seltener - Frauen in der einen oder anderen Weise auf den "Werther" bezogen hätten. Ob diese Berichte der Wahrheit entsprechen, ist nicht ganz klar. Aber es ist gut bezeugt, dass die im Roman beschriebene "Werther-Tracht" - also die Kleidung, die die Figur bei ihrer Selbsttötung trug - als besonders modisch galt und vielfach imitiert wurde.
Fatale Nachahmung
Einige Städte verboten in den späten 1770er-Jahren sogar die Aufführung des Stückes, da es die Selbsttötung verherrliche und ungefestigte Menschen unter Umständen zur Nachahmung anstacheln könne. Zwei Jahrhunderte später führte der amerikanische Soziologe David Philipps schließlich den Begriff des "Werther-Effekts" ein, der einen Anstieg der Suizidrate beschreibt, welcher auf prominente oder medienwirksame Selbsttötungen zurückgeführt wird.
Statistisch ist dieser Effekt recht gut nachgewiesen, auch wenn die Erklärungen nicht immer zu überzeugen vermögen und auch nicht einheitlich ausfallen.
In der christlichen Tradition wurde - über fast alle Konfessionen hinweg - der Suizid hingegen mit großer Entschiedenheit abgelehnt. Im Allgemeinen verweigerten die Kirchen Menschen, die sich das Leben nahmen, auch ein christliches Begräbnis. So auch im "Werther" - der letzte Satz des Romans lautet: "Kein Geistlicher hat ihn begleitet". Immer wieder sind indes Ausnahmen bezeugt, indem man etwa einen Unfall oder eine kurzzeitige "Sinnesstörung" als Todesursache annahm.
Glaubenstradition und Hilfsangebote
Mit seinem aktuellen Gebetsanliegen steht der Papst einerseits ganz in der Glaubenstradition, die dazu einlädt, das Leben als Geschenk anzunehmen. Andererseits greift er aber auch neuere psychologische Erkenntnisse auf, die auf die Bedeutung gut erreichbarer Hilfsangebote für betroffene Menschen hinweisen.
Schon Johannes Paul II. entschied sich 1983, die bis dato zumindest mögliche Verweigerung einer kirchlichen Beisetzung von Suizidenten nicht mehr in die Neuausgabe ins katholische Kirchenrecht aufzunehmen.
Dennoch ist dieses Thema für viele Menschen mit Schuldgefühlen behaftet. Hinterbliebene fragen sich häufig, ob sie diesen Tod nicht hätten verhindern können. Sogar die Sprache ist hier - wie so häufig - nicht neutral: Legt der "Freitod" (im Deutschen wohl von Friedrich Nietzsche erstmals so formuliert) eine selbstbestimmte Entscheidung des betroffenen Menschen nahe, so lässt der auf Martin Luther zurückgehende Begriff "Selbstmord" an ein Verbrechen denken.
Keine Schuldgefühle wecken
Wie also können Christinnen und Christen Menschen dabei helfen, die Schönheit des Lebens wiederzuentdecken, ohne sie oder gar die Hinterbliebenen einer Selbsttötung mit dem Gefühl von Schuld zu belasten? Natürlich kann und darf hier auf die Hilfsangebote vieler Bistümer und auch vieler engagierter - gläubiger wie nicht gläubiger - Menschen verwiesen werden. Sie umfassen die Seelsorge, Beratung, Fürsorge oder Therapien und stehen meist im engen Austausch mit wissenschaftlicher Psychologie.
Es geht es auch darum, eine Selbsttötung nicht mit Schuld zu überfrachten, ohne sie zugleich als Ausweg oder gar als tragisch-schönen Abschluss eines Lebens darzustellen. Papst Franziskus, der die Gebetsbitte noch formulierte, hatte hier vielleicht das richtige Gespür, wenn er einfach zum Gebet aufrief.
800.000 Suizid-Schicksale pro Jahr
Es kann ein Gebet für die jährlich etwa 800.000 Menschen weltweit sein, die diesen Weg gehen; ein Gebet für ihre oftmals von bohrenden Fragen und Schuldgefühlen überwältigten Angehörigen; ein Gebet für alle, die in der Suizidprävention ihren Dienst tun; zuletzt vielleicht auch ein Gebet für Gesellschaft und Kirche, dass man den Geist der Achtsamkeit für Menschen in seelischer Not nicht verlieren möge und selbst die Überzeugung ausstrahlt, dass dieses Leben ein Geschenk des guten Vaters an all seine Geschöpfe ist.