Das bedächtige Auftreten von Papst Leo XVI. könnte nach Einschätzung eines Experten auch Chancen für die Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen bieten. Das große Bild sei noch schwer einzuschätzen, sagte Jörg Fegert der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Bei Leos Amtsvorgänger Franziskus habe er sich jedoch mitunter mehr Konsequenz gewünscht. Fegert: "Man kann keine Regeln aufstellen und sie im nächsten Anwendungsfall über den Haufen werfen."
Der Experte äußerte sich beim Jahrestreffen des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit, das am Sonntag in Bochum zu Ende geht. Es sei klar, dass man in der katholischen Kirche verstärkt auf den Papst schaue, fügte Fegert hinzu. Es brauche aber Kontinuität in vielen Bereichen.
Programm mit päpstlichem Siegel?
Die deutsche Forschung denke sehr in europäischen Strukturen, "in denen es einen funktionierenden, starken Staat gibt". In Ländern, in denen die Kirche dagegen der einzige sichere Hafen sei, finde eine ganz andere Debatte statt: "Da ist es umso wichtiger, dass aus der Institution heraus klar ist, was geht und was nicht geht."
Für manche Helferinnen und Helfer in afrikanischen Ländern sei wichtig, dass sie ein Programm mit päpstlichem Siegel vorweisen könnten, erläuterte der Kinder- und Jugendpsychiater. "Das macht deutlich, wie wichtig es ist, dass man sich gewissermaßen in der Zentrale damit auseinandersetzt."
Es geht immer um Macht
Grundsätzlich gehe es bei Missbrauchsfällen stets um Machtverhältnisse, erklärte Fegert. Je nach Zusammenhang - in der Kirche, in der Medizin oder an Schulen - nutzten Täter unterschiedliche Strategien. "Wer ein geistliches Führungsverhältnis nutzt oder gar die Beichte, den sakramentalen Bereich, der handelt perfide. Auf ähnliche Weise missbraucht ein Arzt seine institutionelle Macht, der unnötige Untersuchungen vorschiebt."
Der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Ulm ist Mitglied im Fachbeirat der Unabhängigen Beauftragen zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, sowie im Lenkungsgremium des Center for Child Protection (CCP) der päpstlichen Universität Gregoriana.