DOMRADIO.DE: Vor gut fünf Jahren begann die Corona-Pandemie, vor gut zwei Jahren endeten die Schutzmaßnahmen. In dieser Woche soll im Bundestag die Aufarbeitung der Pandemie beginnen. Warum erst jetzt?
Alexander Riedel (Hauptstadtkorrespondent der Katholischen Nachrichten-Agentur KNA): Aus Sicht vieler – auch der Beteiligten in der Politik – kommt das tatsächlich spät. Bislang haben nur einzelne Institutionen wie der Deutsche Ethikrat eine Bilanz gezogen. Eigentlich hatte sich die Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP schon fest vorgenommen, die Corona-Pandemie systematisch aufzuarbeiten. In diesem Bereich hatten die früheren Regierungspartner aber unterschiedliche Vorstellungen davon, wie das geschehen soll. So blieb das mit dem Ampel-Aus offen. Die Aufarbeitung mag somit spät erfolgen, aber immerhin kommt sie. Die nächste Pandemie kommt bestimmt – und die Corona-Pandemie wirkt weiterhin nach.
DOMRADIO.DE: Inwiefern?
Riedel: Hunderttausende Menschen leiden in Deutschland nach wie vor an den Spätfolgen einer Covid-19-Infektion. Auch wurden die Auswirkungen auf ein Einsamkeitsgefühl und Belastungen für die Psyche bei vielen Menschen unterschätzt – mit Folgen bis heute. Darauf weist auch die Caritas immer wieder hin. Hinzu kommt: Der Gesundheitssektor muss die Auswirkungen der Pandemie selbst immer noch verarbeiten. Viele konnten sich damals wegen der Isolationsmaßnahmen nicht von sterbenden Menschen verabschieden. Das hat Narben in der Gesellschaft hinterlassen.
DOMRADIO.DE: Seit zwei Monaten haben wir eine neue Regierung aus Union und SPD. Was hat die nun vor in Sachen Corona-Aufarbeitung?
Riedel: Im Bundestag wollen CDU/CSU und SPD in dieser Woche eine sogenannte Enquete-Kommission einsetzen, voraussichtlich am Donnerstag. Der Name „Enquete“ kommt aus dem Französischen und bedeutet Befragung oder Untersuchung. Da sitzen Abgeordnete drin, aber auch Expertinnen. Spannend für die Ausrichtung ist natürlich die Frage, wer in die Kommission berufen wird. Eine solche Kommission nimmt sich eines Themas sehr tiefgehend an – sie tagt in der Regel über mehrere Jahre hinweg regelmäßig. Im Fall der Corona-Aufarbeitung ist vorgesehen, dass die Kommission in zwei Jahren, also im Sommer 2027 einen Abschlussbericht vorlegt.
DOMRADIO.DE: Was genau ist ihr Auftrag?
Riedel: Sie soll ein umfassendes Gesamtbild der Pandemie erarbeiten. Wie verbreitete sich das Coronavirus? Wie reagierte der Staat darauf? Wie die Gesellschaft? Zu einzelnen Aspekten kann die Kommission auch Zwischenberichte vorlegen. Ziel ist dabei vor allem, aus der Corona-Pandemie Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Deutschland soll bei einer neuen Pandemie besser vorbereitet sein.
DOMRADIO.DE: Droht nicht vor allem eine Abrechnung? Viele Maßnahmen waren umstritten. Man denke auch an die Einschränkungen für Gottesdienste, die sich die Kirchen allerdings selber auferlegt hatten.
Riedel: Die Sorge ist da – und wohl auch nicht ganz unberechtigt. So warnt etwa die Caritas vor zu viel rückwirkenden Schuldzuweisungen und Verdächtigungen. Für die frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, die Medizinethikerin Alena Buyx, steht aber auch ein gesellschaftlicher Heilungsprozess teils noch aus, Stichwort Narben. Für eine Aufarbeitung etwaiger Missstände ist eine Enquete-Kommission aber eigentlich nicht der richtige Ort. Dafür gibt es Untersuchungsausschüsse. Sie können Zeugen vernehmen und sich Akten vorlegen lassen. Einen solchen Ausschuss hat die AfD im Bundestag beantragt. Darüber wird am Donnerstag ebenfalls abgestimmt.
DOMRADIO.DE: Heißt das, es gibt dann mehrere Gremien im Bundestag, die sich mit der Aufarbeitung der Pandemie beschäftigen?
Riedel: Denkbar wäre das durchaus. Das eine Gremium in die Zukunft gerichtet, das andere die Vergangenheit aufklärend. Auch inhaltlich könnte das angebracht sein. Man denke etwa an die aktuell heiß diskutierte Frage der Maskengeschäfte des früheren Bundesgesundheitsministers Jens Spahn. Dazu fordern Grüne und Linke einen Untersuchungsausschuss. Die Sache ist aber kompliziert: Mit der mindestens in Teilen rechtsextremen AfD werden Grüne und Linke nicht zusammen für die Einsetzung stimmen. Ohne die AfD können sie es allein aber auch nicht tun, genauso wenig wie die AfD allein. Denn nötig für einen Untersuchungsausschuss ist die Zustimmung von mindestens einem Viertel der Abgeordneten im Bundestag.
Das Interview führte Tobias Fricke.