DOMRADIO.DE: Was zeichnet die Kreuzwegprozession in Rom aus?
Ulrich Nersinger (Buchautor und Vatikanexperte): Es ist etwas ganz Eigentümliches, etwas Außergewöhnliches, wenn man bedenkt dass es ja die Erinnerung und das Miterleben eines Ereignisses ist, das vor 2.000 Jahren in Jerusalem stattgefunden hat. Aber das ist noch nicht das Besondere.
Das Besondere ist, dass es in einem Ambiente geschieht, das ja auch in dieser Zeit schon exsistierte: das Forum Romanum, also das Zentrum des Römischen Reiches, und nur wenige Jahrzehnte später das Kolosseum. Und das ist etwas ganz Außergewöhnliches.
Und wenn man bedenkt, dass man sich mit dem Bischof von Rom, also dem Nachfolger des Heiligen Petrus, der ja auch in Rom sein Martyrium erlitten hat, in dieser liturgischen Feier verbindet, ist es schon etwas sehr Berührendes.
DOMRADIO.DE: Wir wollen uns jetzt näher mit dem Kolosseum befassen und der wechselhaften Verbindung mit der Kirche. Das Kolosseum wurde von 72 bis 80 nach Christi Geburt erbaut und war ja erster Ort des Kampfes.
Nersinger: Es war ein Vergnügungszentrum, so würde man es wohl heute nennen. Das war etwas, was das Volk begeisterte, was auch natürlich von den Herrschern so gewünscht war, eine Spielstätte von unvorstellbarer Größe. Wenn wir alles, was das Kolosseum ausmachte, aufzählen würden, bräuchten wir vermutlich ein gutes Dutzend Gespräche.
DOMRADIO.DE: Ja, aber vielleicht könnten Sie ein, zwei Beispiele geben, was es da so gegeben hat?
Nersinger: Hier gab es - das ist den meisten sicherlich bekannt - die Gladiatorenkämpfe, die zumeist auf Leben und Tod geschahen. Wir kennen die berühmte Szene, dass der Kaiser ihnen zuschaute und als der Kampf zu Ende war, dann mit dem Daumen nach oben oder dem Daumen nach unten sein Urteil fällte.
Dann gab es die berühmten Tierhatzen, Tiere gegeneinander, aber auch Mensch gegen Tier. Das war eine große Sache in Rom. Und man konnte das Kolosseum unter Wasser setzen. Es gab Seeschlachten - das muss man sich einmal vorstellen: Seeschlachten in einem Amphitheater!
DOMRADIO.DE: Es dauerte ein paar Jahrhunderte, bis das Römische Imperium so weit christianisiert war, dass sich Widerstand gegen dieses Morden, dieses Kämpfen, regte. Im Jahr 404 war es ein Mönch, der das wagte. Was ist da passiert?
Nersinger: Der Mönch Telemachus soll der Überlieferung nach in die Arena hineingesprungen sein und den Spielen Einhalt geboten haben, aber das Volk war dermaßen erzürnt über diese Tat, dass es den Mönch tötete.
Auch wenn das Reich schon in großem Umfang christianisiert war, liebte das Volk diese Spiele doch als etwas Besonderes, als etwas, das es unbedingt wollte.
Wir wissen aus der Literatur und aus der Geschichte, dass sich sogar schon heidnische Persönlichkeiten wie Marcus Tullius Cicero oder Juvenal gegen diese Spiele gewandt hatten.
Und auch die christlichen Autoren, die Kirchenväter und die Bischöfe von Rom, haben sich dagegen ausgesprochen. Aber so ganz konnte man das nicht zurückdrängen. Und das dauerte wirklich lange, bis die Spiele dann endlich verschwanden.
DOMRADIO.DE: Ja, ich glaube, das war im Jahre 523, da fanden im Kolosseum zum letzten Mal Kämpfe oder Spiele statt. Was geschah denn danach mit dem Kolosseum?
Nersinger: Dann begann der Bau in gewisser Weise zu zerfallen. Die Zeit selber nagte an diesem Gebäude. Es gab eine ganze Reihe von Ereignissen, die das ihrige dazutaten, Erdbeben. Das alles ließ das Gebäude so zerfallen, dass es kaum noch richtig nutzbar war.
Man hat dann einiges versucht: So teilweise dort Wohnungen eingerichtet und auch schon relativ früh angefangen, das Kolosseum für den Bau anderer großer Gebäude, großer Unternehmen, zu nutzen.
DOMRADIO.DE: Welchen Anteil haben die Päpste, dass das Kolosseum überhaupt noch steht?
Nersinger: Ja, man muss ehrlich sagen, dass die Päpste eine Zeit lang das Kolosseum für ihre Bauvorhaben genutzt haben. Denken wir an die großen Renaissance-Bauten von Nikolaus V. Aber mit der Zeit hat man doch eingesehen, dass diese Stätte auch ein Ort des Martyriums ist, dass dort Christen ihren Tod gefunden haben und dass man diese Stätte darum erhalten sollte.
Es war 1744, als der Papst dann das Kolosseum zur Stätte des Martyriums erklärte und dann jede weitere andere Verwendung verbot und dadurch auch die antike Substanz rettete.
DOMRADIO.DE: Auch heute wird der Kreuzweg im Kolosseum wieder Tausende von Gläubigen anziehen, wohl ja ohne Papst Franziskus. Aber es wird tatsächlich jedes Jahr auch ums Programm immer ein Geheimnis gemacht.
Nersinger: Ja, es geht zum Beispiel darum, wer die Meditation zu dem Kreuzgang verfasst hat - das wird sehr kurzfristig bekannt gegeben. Das sind manchmal die Päpste, in diesem Jahr ist es der Papst selber, der die Meditation geschrieben hat.
Und natürlich ist es immer auch etwas ganz Besonderes, wie das gestaltet wird. Also, wer das Kreuz trägt. Es gibt manchmal darum Auseinandersetzungen, wenn es Personen aus heute miteinander kriegsführenden Ländern sind. Das sind dann Aktualisierungen, die unter Umständen Protest hervorrufen.
DOMRADIO.DE: Sie selbst waren ja häufig beim Kreuzweg im Kolosseum mit dabei. Beschreiben Sie doch mal die Atmosphäre dort.
Nersinger: Das ist sehr schwer zu beschreiben. Man muss sich vorstellen, man steht dort an einem Abend, der zumeist noch sehr kühl, oft auch nass ist. Es ist eine sehr eigentümliche, wie schon eingangs gesagt, eigenartige Atmosphäre, die man miterlebt. Man steht inmitten tausender Leute, das Forum Romanum im Rücken, vor sich das Amphitheater. Und das rührt einen innerlich sehr an.
Es ist schwierig zu beschreiben, aber es ist ein Gefühl, dass einen spirituell berührt, weil man sich so durch die Zeit hindurch mit einem Ereignis verbindet, das vor langer, langer Zeit geschehen ist.
Das Interview führte Carsten Döpp.