Appelle in Zeiten von stark gestiegenem Antisemitismus und Bekenntnisse zu Israel: Unter großen Sicherheitsvorkehrungen und Polizeischutz hat der Zentralrat der Juden in Deutschland sein 75-jähriges Bestehen in Berlin gefeiert. Ins Jüdische Museum waren am Mittwochabend rund 1.000 Gäste und Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft, Judentum und anderen Religionsgemeinschaften gekommen.
Die Festrede hielt Bundeskanzler Friedrich Merz. Unter den Gästen waren auch Außenminister Johann Wadephul (beide CDU), der israelische Botschafter Ron Prosor, der Apostolische Nuntius in Deutschland, Nikola Eterovic, und die frühere Präsidentin des Zentralrats und Schoah-Überlebende Charlotte Knobloch.
Merz würdigte den Zentralrat als "Lebensader der demokratischen Kultur". In der Debatte um den Gaza-Krieg und Waffenlieferungen bekräftigte der Kanzler das Bekenntnis zu Existenz und Sicherheit Israels. Seit dem "barbarischen Angriff" der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 werde Antisemitismus "lauter, offener, unverschämter, gewaltsamer". Ihn entsetze und beschäme das. Alle Menschen seien aufgerufen, sich couragiert Judenhass entgegenzustellen.
"Unverhandelbarer Bestandteil"
Merz bekräftigte unter Applaus, dass das Bekenntnis zur Existenz und Sicherheit Israels ein "unverhandelbarer Bestandteil der normativen Fundamente" Deutschlands sei. Eine Kritik an der Politik der israelischen Regierung müsse möglich und könne sogar nötig sein.
"Aber unser Land nimmt an der eigenen Seele Schaden, wenn diese Kritik zum Vorwand für Judenhass wird." Auch dürfe sie nicht zu der Forderung führen, dass sich Deutschland von Israel abwende. Wenn das Gespräch zwischen den Regierungen an Grenzen komme, sei Deutschland in der Pflicht, um eine gemeinsame Sprache zu ringen, Gemeinsames zu suchen, unterstrich Merz.
"Und ich möchte Ihnen dafür für meine Regierung das persönliche Versprechen geben, dass wir das tun werden: heute, morgen, übermorgen."
Zentralrat 1950 gegründet
Nur fünf Jahre nach der Schoah war der Zentralrat in Frankfurt am Main gegründet worden, am 19. Juli 1950. Mittlerweile sitzt er in Berlin. Der eigentliche Jahrestag ist zwar schon vorüber, der Empfang fand aber anlässlich des jüdischen Neujahrsfestes Rosch Haschana statt, das am Montag beginnt.
Zunächst war der Zentralrat für die wenigen überlebenden Jüdinnen und Juden eine Interessenvertretung für die Übergangszeit bis zur Ausreise. Er entwickelte sich dann zu einer etablierten Interessenvertretung der jüdischen Gemeinschaft. Heute ist er Dachverband von 105 Gemeinden mit etwa 100.000 Mitgliedern und vereint zahlreiche Organisationen unter seinem Dach.
"Keine gute Zukunft ohne Juden"
Der Zentralrat habe sich etwa für rechtliche Weichenstellungen zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts eingesetzt, sagte Merz. Auch habe er Jüdinnen und Juden, die ab 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten, helfend zur Seite gestanden. Jüdisches Leben habe sich in Deutschland wieder "beheimaten" können.
Die Idee einer offenen Gesellschaft gerate unter Beschuss, mahnte Merz. "Und mit ihr das normative Fundament Deutschlands, Israels, der freiheitlichen Welt insgesamt", so der Kanzler. "Ich möchte den Jüdinnen und Juden in Deutschland heute sagen: Ohne Sie kann es keine gute Zukunft für die Bundesrepublik geben."
80 Jahre nach dem Ende der Schoah stellte Zentralratspräsident Josef Schuster die Ernsthaftigkeit des Ausspruchs "Nie wieder" infrage. "Der Antisemitismus zeigt sich nicht nur in seinen gewalttätigen Auswüchsen, sondern zunehmend auch im Alltag." Antisemitismus richte sich gegen Juden, bedrohe aber stets die gesamte Gesellschaft.
Das Bundeskriminalamt hatte 2024 bei antisemitisch motivierten Delikten einen neuen Höchststand verzeichnet: eine Steigerung um knapp 21 Prozent auf rund 6.200 (Vorjahr: 5.200). Schuster dankte Merz unter Applaus für seine "ausgesprochen bewegende Rede" am Montag in München. Der Kanzler hatte dort eine emotional vorgetragene Rede in der Münchner Synagoge Reichenbachstraße gehalten und kämpfte mit den Tränen.
An Merz gerichtet sagte Schuster: "Sie sind auch in enger Freundschaft und tiefer Empathie mit dem Staat Israel und den dortigen Menschen verbunden. Lassen Sie sich von diesem Weg nicht abbringen, weder von anderen europäischen Ländern noch von einzelnen Parlamentariern in unserem Bundestag." Dafür erhielt Schuster Applaus. Dies sei umso wichtiger in Zeiten, in denen diese Solidarität in Teilen der Gesellschaft brüchig zu werden scheine.
Nicht alle Entscheidungen nachvollziehbar
Schuster kritisierte zugleich die israelische Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu: Nicht alle Entscheidungen seien nachvollziehbar. "Mit den Äußerungen einiger seiner Kabinettsmitglieder hadern auch Juden außerhalb Israels."
Das dürfe aber keine Rechtfertigung dafür sein, dass sich Deutschland von Israel abwende oder die Unterstützung reduziere. "Aus gutem Grund heißt es Staatsräson und nicht Regierungsräson. Deutschland muss für die Sicherheit Israels einstehen, unabhängig davon, wie der Regierungschef heißt."
"Meilenstein"
Der Zentralrat trete für eine Vision einer jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ein, die engagiert sei, die füreinander einstehe und die ihren Platz in der Gesellschaft selbst bestimme. In der Praxis zeige sich dies etwa im Staatsvertrag zur jüdischen Militärseelsorge.
Schuster nannte es einen "Meilenstein", dass es nun das erste Mal seit dem Ersten Weltkrieg wieder Militärrabbiner gebe. Hinzu komme die geplante Jüdische Akademie in Frankfurt am Main, die 2026 eröffnet werde.