"Tina, Tom und Mary", zählt Nadja ihre Puppen auf und präsentiert stolz einen verwaschenen Teddybären. Die 7-Jährige trägt einen rosa Pullover mit der Comic-Figur Minni Mouse drauf, ihre Hausschuhe bestehen aus pinken Tiertatzen mit Glitzer. In ihrem Zimmer stehen noch zwei weitere Betten, die den beiden Zimmernachbarinnen gehören. Denn Nadja ist eines der insgesamt neun Kinder einer Caritas-Wohngruppe in Tiflis.
Instabile Familienverhältnisse

Alle Kinder, die in der Heimeinrichtung wohnen, sind von einer Kindeswohlgefährdung betroffen. Im Elternhaus haben viele von ihnen physische, psychische Gewalt oder Verwahrlosung erlebt. Manche kommen direkt von der Straße. Eine Zusammenführung mit der Kernfamilie stehe zwar immer an oberster Stelle, erklärt Tamar Sharaschize, die die sozialpädagogische Arbeit leitet, doch das sei längst nicht in allen Fällen möglich. So blieben manche Kinder sogar bis zu ihrer Volljährigkeit in der Wohngruppe.
Mutter starb, als er vier war
So war es auch bei Georgi Arakaliani. Georgi ist Vollwaise. Als er in die Wohngruppe kam, war er sechs und seine Schwester vier. Zuerst starb seine Mutter. Der Vater trank, war Alkoholiker und starb kurze Zeit später an Leberzirrhose. Dann kamen die Kinder zu den Großeltern. Doch die hätten selbst Hilfe gut brauchen können, waren kaum in der Lage sich zu kümmern.

Ein Onkel brachte sie schließlich zur Caritas. "Das einzig Gute, was er für uns getan hat", sagt Georgi trocken. Der mittlerweile 24-Jährige wirkt selbstreflektiert. Er habe eine Therapie gemacht, erklärt er. Das habe ihm geholfen.
Individuelle Förderung
Ob es hier eine gute Zeit war? Georgi zuckt mit den Achseln. "Ja schon, wir hatten alles, was wir brauchten. Aber es war nicht immer einfach. Vermutlich hat mich das stärker gemacht als andere in meinem Alter."
Dankbar ist er vor allem für die vielfältigen Freizeitangebote: "Ich hatte viele Hobbies: Sport, Schach, Volkstanz, Fußball. Mir wurde hier vieles ermöglicht." Ein Familienersatz sei die Gruppe aber nicht gewesen, auch wenn die Betreuer ihr Bestes gaben. "Tief im Inneren war uns allen klar, dass wir nicht Familie sind. Was wir gemein hatten, war der Mangel an Liebe von unseren Eltern."
Reise in die Vergangenheit

Im Treppenhaus des Caritas-Zentrums hängen alte Fotos. "Das bin ich", er zeigt auf eine Collage von Gruppenbildern. Wenn Georgi lächelt, strahlt sein ganzes Gesicht und seine schwarzen Augen leuchten. Zu sehen sind Kinder, die in Kostümen auftreten. Kinder, die zusammen essen, basteln, spielen oder um ein Lagerfeuer herum sitzen. Mit einigen sei er immer noch in Kontakt. "Diese beiden hatten Glück", Georgis Zeigefinger wandert auf zwei Kinder, "sie wurden von einem italienischen Ehepaar adoptiert, das keine eigenen Kinder hatte".
Konflikthafter Übergang ins Erwachsenenleben
Dann streift sein Blick ein paar jüngere Fotos. "Am schwersten ist das Jahr, wenn du raus musst", erzählt er.

Nicht alle schafften den Absprung ins normale Leben. Viele haben keine abgeschlossene Ausbildung, werden mit kriminellen Aktivitäten, Prostitution, Missbrauch von Alkohol und Drogen konfrontiert. Georgi beschreibt das so: "Wenn man keine Familie hat, geht man schneller verloren. Man weiß nicht, wohin mit sich. Viele Jungs geraten auf die schiefe Bahn. Ihr Traumberuf ist Gangster. Manche Mädels werden früh selbst wieder Mutter." Ein Teufelskreis.
Zukunft durch Bildung
Auch Georgi wusste nach seiner Volljährigkeit nicht, wie es für ihn weitergehen sollte. Doch seine Noten waren überdurchschnittlich gut, sodass er zu einem Studium ermutigt wurde. Er machte einen Abschluss in Business und Tourismus und arbeitete in einem Hotel, seine Schwester studierte Management. Doch der Job sei nichts für ihn gewesen, sagt er. Das Hotel lag in einem Winterkurort, die Wege waren zu weit. Hinzu kamen mentale Probleme. Schließlich kehrte er ins Caritas-Zentrum zurück und absolvierte einen Freiwilligendienst in einer der drei Wohngruppen.

Allein in der Hauptstadt Tiflis werden pro Jahr bis zu 35 Kinder in den Jugendhilfeeinrichtungen betreut. Zur sozialen Arbeit des Trägers gehören aber auch zahlreiche weitere Hilfsprojekte, wie etwa ein Frauenhaus, eine Kleiderkammer, ein inklusives Café oder Bildungsangebote für Kinder, die sich auf dem selben Gelände befinden.
Vom Waisenkind zum Mutmacher
Heute arbeitet Georgi im Migrationsprojekt der Caritas und hilft Menschen, die nach Georgien abgeschoben werden. Doch wenn er in den Pausen mal Zeit hat, schaut er gerne in seinem alten Zuhause vorbei: "Ich mochte das Gefühl, jemanden etwas zu bedeuten. Dieses Gefühl versuche ich jetzt selbst weiterzugeben."
Information der Redaktion: Diese Text entstand in Georgien während einer Reise mit dem Osteuropahilfswerk Renovabis, anlässlich der diesjährigen Pfingstaktion "Voll der Würde. Menschen stärken im Osten Europas".