Wenn Krieg den Traum von einer glücklichen Geburt vereitelt

"Immer hatte ich Angst um mein ungeborenes Kind"

Unter den vielen aus der Ukraine geflüchteten Frauen sind auch Schwangere. Wie das ist, wenn der werdende Vater im Krieg zurückbleibt und statt Freude auf das Baby die Angst zum ständigen Begleiter wird, berichtet Olena aus Charkiw.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Zwischen Hoffen und Bangen: Olena zeigt stolz das Ultraschallbild ihrer Tochter, die Anfang Oktober in Deutschland geboren werden soll. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zwischen Hoffen und Bangen: Olena zeigt stolz das Ultraschallbild ihrer Tochter, die Anfang Oktober in Deutschland geboren werden soll. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

"Ich bin schwanger." Sichtlich stolz formuliert Olena Vodolana diesen einfachen Satz auf Deutsch und lächelt dabei zaghaft. Er ist einer der ersten überhaupt, die die 34-Jährige nach ihrer Ankunft in Bergisch Gladbach gelernt hat. Sechs Monate liegt das nun zurück. Und wesentliche Sprachfortschritte hat sie seitdem nicht mehr gemacht. Die Übersetzungsapp ist für jedes  Gespräch unverzichtbar. Auch wenn die junge Frau gemeinsam mit einer Freundin und deren achtjährigem Sohn bei einer Familie, die in der katholischen Kirchengemeinde am Ort aktiv ist, freundliche Aufnahme gefunden hat, hier jede Unterstützung bekommt, die sie braucht, und sogar an einem Deutschkurs teilnimmt, fällt es ihr schwer, nach vorne zu schauen, in Deutschland wirklich anzukommen. Auf einen kompletten Neuanfang in einem fremden Land – darauf ist sie nicht wirklich vorbereitet. Geschweige denn, dass so etwas in ihre Lebensplanung passt.

Täglich kreist ihr Denken um das, was sie in der Ukraine zurücklassen musste: vor allem ihren Mann Vadim, der zwar nicht als Soldat an der Front kämpft, aber in seiner Heimatstadt Charkiw humanitäre Hilfe leistet, obwohl er mal einen gut gehenden Online-Handel für Gartenbedarf hatte. Seit Kriegsbeginn unterstützt er die Armee und gehört zu einem Team, das die Zivilbevölkerung in der großteils zerstörten Stadt mit dem Nötigsten wie Medikamenten, die Transporter aus dem Ausland in die Ukraine liefern, versorgt. Wenn Olena die Stimme von Vadim hört, dann ist für einen Moment lang alles gut. Dann hat sie Gewissheit, dass der 32-Jährige noch lebt. In Sicherheit wiegen kann sie sich trotzdem nicht. Was weiß sie schon, was 2500 Kilometer entfernt von ihr tatsächlich passiert, wie die aktuelle Bedrohungslage in der Stadt wirklich aussieht. Ob sich nicht die vermeintliche Ruhe von jetzt auf gleich – wie Ende Februar – in ein Inferno verkehren kann.

Die medizinische Versorgung in Charkiw ist katastrophal

Schließlich halten militärische Auseinandersetzungen um diese gleich zu Anfang des russischen Angriffs umkämpfte Millionmetropole mit ihren eleganten Einkaufsmalls und gefragten Universitäten immer noch an. Ganze Straßenzüge liegen längst in Trümmern. Wohngebiete sind zu Geisterstädten, Häuser zu ausgebrannten Ruinen geworden. Die Menschen, die hier noch ausharren, kämpfen täglich in Kellergeschossen und U-Bahn-Schächten ums nackte Überleben. Der Krieg tobt vor der Haustür, die medizinische Versorgung ist katastrophal, der Vorrat an Nahrungsmitteln knapp.

Olena weiß gerade mal seit gut drei Wochen, dass sie schwanger ist, als Putin in den frühen Morgenstunden des 24. Februar das Nachbarland angreifen lässt. Nach einer Fehlgeburt vor drei Jahren war die Freude riesig gewesen, als sie Ende Januar erneut feststellte, dass sie wieder ein Kind erwartet. "Endlich", kommentiert sie das freudige Ereignis. "Wir hatten so sehnsüchtig darauf gewartet. Ich fürchtete schon, dass es nicht mehr klappt, weil ich für ukrainische Verhältnisse als Spätgebärende gelte. Daher konnten wir unser Glück kaum fassen", erzählt sie rückblickend. Gleichzeitig füllen sich ihre Augen mit Tränen. Seit Monaten durchläuft sie ein Wechselbad der Gefühle. Hoffen und Bangen, Freud und Leid liegen in diesen Tagen eben dicht beieinander. Denn die Zukunft ist für sie voller Fragezeichen. "Eine eigene Familie – am liebsten mit vielen Kindern – das war immer mein Traum. Dafür wollte ich meinen Beruf aufgeben. Aber jetzt weiß ich nicht, was werden soll."

Olena Vodolana

"Wir wurden von den Menschen nach dieser Mammut-Tour auch überaus freundlich empfangen, haben aber dann schließlich zu neun Erwachsenen, einem Säugling und drei Haustieren zehn Tage lang in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gehockt."

Das Paar zögert nicht lange, als an jenem Morgen die ersten Raketeneinschläge zu hören sind, die ersten Toten gemeldet werden. "Bereits einen Tag später war klar, dass ich aus Charkiw raus muss", berichtet Olena. "Eine Woche haben wir da noch im Keller unseres Hauses zugebracht und die Fluchtroute überlegt. Mein Mann wollte mich nach Poltava, das eigentlich nur etwa 130 Kilometer Luftlinie weit entfernt in der Zentralukraine liegt, bringen. Am Ende haben wir für diese Strecke zwölf Stunden gebraucht." Sie hätten gewusst, dass die Lage dort noch einigermaßen ruhig ist. "Wir wurden von den Menschen nach dieser Mammut-Tour auch überaus freundlich empfangen, haben aber dann schließlich zu neun Erwachsenen, einem Säugling und drei Haustieren zehn Tage lang in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gehockt." Fremde Menschen hätten ihr und den anderen Flüchtlingen im achten Stock eines Hochhauses ihre Wohnung zur Verfügung gestellt. "Aber wenn Luftalarm war, mussten wir sofort dar raus und uns in Sicherheit bringen", sagt sie. Straßenschilder und Hinweise auf die Militärschule in der Nachbarschaft seien abmontiert worden, um im Falle eines Falles dem Feind die Orientierung zu erschweren. "Es gab eine Ausgangssperre, und trotz der äußeren Ruhe herrschte maximale Anspannung. Alle waren total verängstigt."

Olena ist total erschöpft und sorgt sich in dieser unberechenbaren Lage um ihr Baby. "Immer hatte ich Angst um mein ungeborenes Kind. Ich musste wissen, ob es ihm gut geht, sich die Schwangerschaft trotz der enormen Strapazen normal entwickelt." Eigentlich hätte sie Ende Februar ihre erste Ultraschalluntersuchung bei ihrem Arzt in Charkiw gehabt. Doch die Flucht bringt alles durcheinander. Also sucht sie in Poltava nach einem Arzt, der ihr bestätigen kann, dass mit dem Kind alles in Ordnung ist. Zum ersten Mal sieht sie auf dem Monitor sein Herzchen schlagen und ist außer sich vor Freude. Ihr Mann, der umgehend nach Charkiw zurückkehren musste, beschwört sie, sich in Sicherheit zu bringen, mit einer Freundin und deren Kind von Poltava außer Landes zu fliehen.

Angst, das Kind auf der Flucht zu verlieren

Mit einem Mal geht alles sehr schnell: Im Zug fährt die dreiköpfige Gruppe über Kiew weiter nach Lwiw, dort steigt sie in einen völlig überfüllten Bus, um an die ukrainisch-polnische Grenze zu gelangen. Stundenlanges Warten auf den Bahnhöfen in der Kälte, mangelnder Schlaf, die permanente Übelkeit der Frühschwangerschaft und die vielen, vielen umherirrenden Menschen überall nehmen Olena die letzte Kraft. "Auch wenn wir immer wieder auf sehr hilfsbereite Leute gestoßen sind, die uns heißen Tee oder Suppe gereicht haben", räumt sie ein. Dass sie keine gültigen Reisepapiere bei sich hat, sorgt für zusätzliche Panik. Erneut befürchtet die schwangere Frau, dass sich ihr eigener Stress auf das Kind überträgt und es die Reise nicht überlebt. Pausenlos hört sie in sich hinein. Die Angst, noch einmal ein Kind zu verlieren und damit womöglich auf sich allein gestellt zu sein, bringt sie fast um den Verstand.

Der pausenlose Telefonkontakt zu Vadim ist das einzige, woraus sie Energie bezieht, um nicht aufzugeben. Vier Tage non stop in vollgestopften Bussen und Zügen hat Olena hinter sich, als sie am 16. März über die Route Prag schließlich die deutsche Grenze erreicht und via Nürnberg am Kölner Hauptbahnhof ankommt. Ihr Ziel ist Bergisch Gladbach, wo sie Natascha, eine Tante ihres Mannes, treffen will, auch wenn diese die zwei geflüchteten Frauen und den Jungen nicht aufnehmen kann. Als sich Olena endlich das erste Mal ausruhen und wirklich in Sicherheit wähnen kann, ist sie insgesamt schon über zwei Wochen unterwegs, um vor dem Krieg in der Heimat zu fliehen.

Olena Vodolana

"Ich wollte viel Zeit für mein Kind haben, alles tun, damit wir zu dritt einen glücklichen Start haben, mich in Ruhe auf die Geburt vorbereiten. Nun bekomme ich mitten im Krieg ein Kind, vermisse meinen Mann und fühle mich völlig allein gelassen."

"Damals, während der ersten Nacht im Keller unseres Hauses in Charkiw, haben wir noch gedacht, die Angriffe gehen schnell wieder vorbei. Inzwischen habe ich jede Hoffnung verloren, dass sich die Lage stabilisiert und wir bald nach Hause zurück können. Der Frieden ist in weiter Ferne, und ich stelle mich darauf ein, mein Kind hier in Deutschland allein zu bekommen." Dabei habe sie sich das eigentlich ganz anders vorgestellt. Wieder wischt sich Olena die Tränen weg und streichelt zärtlich über den gewölbten Bauch. "Ich wollte viel Zeit für mein Kind haben, alles tun, damit wir zu dritt einen glücklichen Start haben, mich in Ruhe auf die Geburt vorbereiten. Nun bekomme ich mitten im Krieg ein Kind, vermisse meinen Mann und fühle mich völlig allein gelassen."

Charkiw sei für sie immer die schönste Stadt der Welt gewesen. Nun aber begreife sie allmählich, dass es absehbar erst einmal dorthin kein Zurück mehr gibt. "Vielleicht muss ich meine Tochter alleine aufziehen, und sie wächst auf, ohne ihren Vater zu kennen. Dieser Gedanke ist unvorstellbar. Genauso wie die Vorstellung, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Ich wollte niemals alleinerziehende Mutter sein", fügt sie mit Nachdruck noch einmal hinzu. "Wir sind Ukrainer und lieben unser Land. Meine Mutter lebt in Odessa, mein Vater in Donezk. Die Familie bedeutet mir alles."

Hoffnung auf Rückkehr nach Charkiw

Für Anfang Oktober ist das Baby ausgerechnet. Eine Wickelkommode steht in Olenas Zimmer schon bereit. Die Wiege ihrer eigenen drei längst erwachsenen Kinder leiht ihr die Gastmutter, die sich auch bereits um eine Hebamme gekümmert und bei der Anmeldung in der Geburtsklinik assistiert hat. Überhaupt geht ohne deren Unterstützung bei Behördengängen nichts. Gut vier Wochen sind es nun noch bis zur Entbindung. Olena hat Vadims Tante Natascha gebeten, im Kreißsaal mit dabei zu sein. Nur für die Erstlingsausstattung, erklärt die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren, sei noch Zeit. In der Ukraine seien die Menschen abergläubisch. Strampelhosen und Jäckchen würden erst besorgt, wenn das Baby tatsächlich auf der Welt sei.

Theoretisch kann es nun jeden Tag soweit sein. Immer wenn sich das Kind im Mutterleib regt, geht vorübergehend ein Strahlen über Olenas Gesicht. Im selben Moment macht sie sich große Sorgen um die Zukunft ihrer kleinen Familie. Momentan laufen Bemühungen, dass der Vater unmittelbar nach der Geburt für zwei, drei Wochen aus der Ukraine ausreisen und vorübergehend seinen Posten als humanitärer Helfer verlassen darf. "Alles Glück auf Erden" würde das für sie bedeuten, ruft Olena mit leuchtenden Augen. "Wenn Vadim an meiner Seite ist, dann schaffe ich alles. Das Wichtigste ist, dass wir zusammen sind." Auch den Namen des Kindes dürfe er wählen. Da würde sie ganz geduldig warten, bis er käme. Mit leiser Stimme fügt sie noch hinzu: "Mein allergrößter Wunsch ist, dass er bleibt, wir nie wieder voneinander getrennt werden. Und wir eines Tages nach Charkiw zurück können."

Mehr als 915 000 ukrainische Kriegsflüchtlinge in Deutschland erfasst

Seit dem Start der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar wurden in Deutschland schon mehr als 915 000 Kriegsflüchtlinge im Ausländerzentralregister erfasst. Das teilte das Bundesinnenministerium auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit. Davon seien 890 605 ukrainische Staatsangehörige (Stichtag 19. Juli). Wie viele der Personen sich derzeit noch in Deutschland aufhalten, ist aber unklar. Eine erhebliche Zahl könne bereits in andere Staaten weitergereist oder in die Ukraine zurückgekehrt sein.

Eine freiwillige Helferin erwartet im Kölner Hauptbahnhof Flüchtlinge aus der Ukraine / © Adelaide Di Nunzio (KNA)
Eine freiwillige Helferin erwartet im Kölner Hauptbahnhof Flüchtlinge aus der Ukraine / © Adelaide Di Nunzio ( KNA )
Quelle:
DR