Vatikan öffnet Dokumente aus Geheimarchiv

Was wusste Pius XII. über den Holocaust?

Hat Papst Pius XII. geschwiegen angesichts des Millionenfachen Mordes an den Juden? Oder wirkte er still im Hintergrund? An diesem Montag werden erstmals die vatikanischen Archive aus seinem Pontifikat geöffnet. Der Leiter des historischen Archivs im Erzbistum Köln hofft auf neue Erkenntnisse.

Dokumente im Vatikanarchiv zum Pontifikat von Pius XII. / © Cristian Gennari (KNA)
Dokumente im Vatikanarchiv zum Pontifikat von Pius XII. / © Cristian Gennari ( KNA )

DOMRADIO.DE: Am 2. März 1939, vor 80 Jahren, wählte das Konklave den damaligen Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli zum Papst. Es gibt unterschiedliche Ansichten über sein Pontifikat und darüber, wie er sich zum Holocaust verhalten hat: Hat er geschwiegen? Oder hat er im Hintergrund gewirkt, weil laute Anklagen noch mehr Opfer gefordert hätten? Was glauben Sie?

Dr. Ulrich Helbach (Direktor des Historischen Archivs des Erzbistums Köln): Nach derzeitiger Quellenlage stellt sich das so dar, dass er trotz konkreter Hilfeleistung seine Stimme nicht wortgewaltig erhoben hat, vermutlich um Schaden von der Kirche abzuwenden. Denn er war ja auch in einer politischen Rolle gegenüber dem Naziregime und alles fand in einem politischen Kontext statt, ein Beispiel: In seiner bekannten Weihnachtsansprache von 1942 hat er nicht die massenhafte Tötung von "Juden" verurteilt, sondern die Tötung von Menschen allein wegen ihrer "Nationalität" oder "Abstammung". Aber natürlich hat das jeder verstanden. Heute wird das unterschiedlich bewertet und nach wie vor steht die Frage im Raum: Hätte die Kirche lauter sein müssen?

DOMRADIO.DE: Was erwarten Sie von der Öffnung der Geheimarchive?

Helbach: Vor allem über die Motive, warum er was, wann getan hat, herrscht bisher noch Unklarheit. Insofern wird es spannend, ob wir nach der Veröffentlichung mehr darüber erfahren, wie er zu Entschlüssen kam, wer ihn beraten hat, welche Entwürfe es gab und wie sie sich durch Überarbeitung veränderten.  Heute kennen wir die furchtbare Dimension des Holocaust, aber wichtig ist auch zu klären: Wie viel war davon vor 1945 bekannt? Wer hat zu welchem Zeitpunkt was gewusst oder nicht gewusst? Pius XII. galt als jemand, der immer alles gründlich durchdacht und abgewogen hat, insofern ist es spannend zu sehen, ob die vatikanischen Archive jetzt noch mehr hergeben.

DOMRADIO.DE: Es ist von einem "Geheimarchiv" die Rede. Was genau ist das und wie umfangreich?

Helbach: Es handelt sich um Akten aus unterschiedlichen vatikanischen "Behörden", zum Beispiel der Glaubenskongregation oder der Ostkirchenkongregation und die aus dem "Geheimarchiv", das mittlerweile "apostolisches Archiv" heißt. "Geheim" steht ursprünglich für "privat", also dem Papst vorbehalten. Selbstverständlich waren diese Akten und Unterlagen noch nicht zugänglich, aber richtige "Geheimnisse" hat man da nicht zu erwarten. Das hat nicht nur bei der Kirche auch etwas mit Dienstsphäre und dem Schutz des Amtes zu tun. In Deutschland bleiben bischöfliche Amtsakten und Nachlässe 60 Jahre verschlossen, wobei Wissenschaft hier aber schon vor Ablauf der Frist Zugang erhalten kann.

Die Verschlusszeit hat aber auch etwas damit zu tun - und das ist im Vatikan nicht zu unterschätzen - dass Akten aller Einzelbehörden zunächst einmal von Archivaren gesichtet, bewertet und vorsortiert werden mussten, sonst würde man in Material ersticken. Das ist ein sachlicher Vorgang, da wird nicht fachlich ausgewertet oder manipuliert. Aber das dauert eben.

DOMRADIO.DE: Wie lange schätzen Sie, dauert es, bis die jetzt zu veröffentlichenden Akten ausgewertet sind?

Helbach: Ich kenne derzeit auch nur die Medienberichte, denen zufolge es mehr als 200.000 Einheiten sind, die 10 oder 100 oder weit mehr Blatt Umfang haben können. Es ist auf jeden Fall in der Summe enorm viel und nur eine gewisse Anzahl an Forschern hat Zugang, die am Tag auch nur eine begrenzte Anzahl an Papieren bestellen können. Die Auswertung der Archive dauert auf jeden Fall mehrere Jahre.

DOMRADIO.DE: Sind Sie gespannt, ob die Akten auch ein neues Licht auf den damaligen Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Frings werfen?

Helbach: Das ist eine spannende Frage, ob wir da noch neue Informationen finden, zumal Eugenio Pacelli, der spätere Pius XII., seit 1917 Nuntius im Deutschen Reich gewesen war, d.h. er kannte das Land und es gab enge Verbindungen. Frings war ab 1945 Vorsitzender der deutschen Bischöfe und hat somit natürlich auch den Weg der Kirche in Deutschland nach dem Krieg geprägt. Die Sicht der Bischöfe richtete sich damals strikt nach vorne, Selbstreflexion über das Verhalten während der Nazi-Zeit gab es nur sehr punktuell. Das vorherrschende Bild nach dem Ende des Krieges war, dass die Kirche mächtig Widerstand geleistet hatte, dass sie selbst Opfer war. So hatte es Pius XII. schon im Juni 1945 überraschend deutlich erklärt.

Das ist zwar alles nicht falsch, aber so einig war die Kirche nicht. Es gab Bischöfe, die zur brutalen Missachtung der Menschenrechte geschwiegen hatten; Frings hat zwei, drei Mal von der Kanzel herab die Tötung von Unschuldigen und Menschen "anderer Nation und Rasse" verurteilt und wer da gemeint war, liegt auf der Hand. Wir würden heute sagen, das war vielleicht zu wenig, aber es war 1943 und es war ein moralisches Zeichen.

Insofern haben wir da eine direkte Beziehung zwischen dem, was der Papst sagt und dem, was die Bischöfe in Deutschland taten. Ein anderes Beispiel ist, dass der Papst 1946 drei deutsche Bischöfe in den Kardinalsstand erhob: Die aus Köln, Berlin und Münster. Köln und Berlin waren recht schnell gesetzt, auch aus kirchenpolitischen Gründen, aber wir wissen heute aus einem Brief des Privatsekretärs des Papstes, dass Pius XII. noch bis kurz zuvor mit sich gerungen hat, ob er Graf von Galen oder einen anderen Bischof zum Kardinal machen sollte. Für Galen sprach, dass er weltweit zur Symbolfigur wegen seiner klaren Worte gegen die Euthanasie geworden war. Und Pius wollte nun nicht dem Eindruck Vorschub leisten, er habe die Linie von Galens nicht vollkommen "gebilligt". Da sieht man so einen Hauch von Rechtfertigungsdruck und wüsste gerne mehr.

DOMRADIO.DE: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich viele Naziverbrecher wie Eichmann oder Mengele mit Hilfe vatikanischer Pässe ins Ausland absetzen können. Hat der Papst das gewusst?

Helbach: Gerade in Deutschland gab es damals mit Blick auf die Täter viel Naivität, Stichwort "Persilscheine“. Bald setzte sich aber die Erkenntnis durch, dass man schon genau hinschauen muss, wem man welche Bescheinigung gibt. Was den Vatikan angeht, weiß man bis heute nicht, wie systemisch das war. Wir wissen, dass Täter sich Dank der Fluchthilfe des Vatikan absetzten, ob das aber strukturell war oder nur einzelne Mitarbeiter es unterstützten, ob das Botschaftern in den Aufnahmeländern und vor allem dem Papst in der Tiefe bekannt war, wissen wir nicht. Das wird auch eine wichtige Frage bei der Öffnung der Archive sein: Was wusste der Papst davon?

DOMRADIO.DE:: Auf welche Informationen jenseits des Themas Holocaust hoffen Sie bei der Archivöffnung?

Helbach: Mit Blick auf viele Regionen ist zum Beispiel die Frage spannend, inwiefern sich Pius nach 1945 von der Angst vor dem Bolschewismus und dem Kommunismus leiten ließ. Oder was von den deutschen Bischöfen in Rom aufgenommen wurde. Ein Beispiel: Es gab nach dem Krieg 1945 teilweise beachtliche Nähe zwischen Protestanten und Katholiken und es gab einige evangelische Pfarrer, die zum Katholizismus übertreten und weiter als Priester wirken wollten. Deswegen stellten die Bischöfe von Paderborn und Mainz eine Anfrage an den Nuntius und den Papst, ob man in diesen Fällen nicht eine Ausnahme vom Zölibat machen könnte, da diese Männer verheiratet waren. Heute gibt es diese Option, aber damals war das ungemein provokant. Und es wäre spannend zu wissen, ob das den Papst erreicht hat und wie seine Haltung dazu war.

DOMRADIO.DE: Seit 1965 läuft ein Seligsprechungsverfahren für Pius XII., jetzt gibt es Forderungen, dass es bis zur gründlichen Auswertung der Archive gestoppt werden sollte. Wie sehen Sie das?

Helbach: Die Kirche sollte Wahrheit und Geschichte nicht fürchten. Das Seligsprechungsverfahren täte gut daran, jetzt noch mal für gewisse Zeit zu reflektieren, zu welchen Ergebnissen die Forscher kommen. Das wäre auch ein Zeichen des Respekts gegenüber der Archivöffnung.

Auf der anderen Seite hat der Postulator natürlich vorgearbeitet und die zentralen Fragen zu dem Thema in das Verfahren einfließen lassen. Dass Pius XII. seine Stimme zum Holocaust nicht laut erhoben hat, ist ja schon bekannt. Deswegen kann ich mir auch nicht vorstellen, dass die Archive jetzt noch Informationen zu Tage bringen, die seine Seligsprechung in Zweifel ziehen.

Das Interview führte Ina Rottscheidt. 


Ulrich Helbach im Historischen Archiv des Erzbistums Köln / © Ulrich Helbach (privat)
Ulrich Helbach im Historischen Archiv des Erzbistums Köln / © Ulrich Helbach ( privat )
Quelle:
DR