DOMRADIO.DE: Herr Dahm, wie würden Sie den Begriff Kirchenlehrer in wenigen Worten erklären?
Benedict Dahm (Theologe und Kirchenhistoriker): Bei Tausenden Heiligen in der katholischen Kirche sind 38 Kirchenlehrerinnen und -lehrer ein sehr kleiner Kreis mit einem exklusiven Titel. Die Kirche hat das relativ klar definiert: Ein Kirchenlehrer ist jemand, der sich durch ein heiligmäßiges Leben und Rechtgläubigkeit einerseits auszeichnet. Dazu aber eine ganz herausragende Bedeutung für die Theologie der ganzen Kirche einnimmt und mit seinem Denken einen prägenden Einfluss hat.
Es ist aber keine Aufwertung der Heiligkeit, darüber kommt nichts mehr. Es ist vielmehr eine Betonung der besonderen theologischen Qualität, die jemand besitzt. Und bis ins Mittelalter gab es nur vier Kirchenlehrer, seit dem 16. Jahrhundert sind dann immer mehr dazu gekommen. Gestern haben wir hier in Rom den 38. in diese exklusive Liste aufgenommen.
DOMRADIO.DE: Augustinus von Hippo und Hildegard von Bingen zählen beispielsweise zu den Kirchenlehrern. Welche Relevanz haben diese Persönlichkeiten heute noch?
Dahm: Jede Zeit braucht sozusagen ihre ganz eigenen Lehrerfiguren. Also Augustinus beeinflusst ja bis heute ganz viele Theologen, beeinflusst die christlichen Vorstellungen von Gnade, Sünde und Gotteserfahrung. Sie haben Hildegard von Bingen genannt, die steht für eine ganzheitliche Spiritualität steht, die Theologie, Natur und Mystik verbindet. Sie wird oft auch als Vorbild für ökologische und weibliche Spiritualität gesehen.
Daran sieht man auch, dass die Kirchenlehrer ihre ganz eigenen Akzente haben. Das zeigt, dass Glaube kein Museumsstück ist, sondern etwas sehr lebendiges. Jeder einzelne bringt eigene Aspekte in den Glauben ein und Newman steht eben auch in dieser Linie. Dass er sich selbst häufig auf Augustinus bezieht, zeigt ja auch die Verwobenheit der Tradition, also wie das alles aufeinander verweist.
DOMRADIO.DE: Sie sind selbst in Rom, wie genau ist denn diese Ernennung passiert? In Ihrem WhatsApp-Status habe ich Bilder von der Papstaudienz gesehen und von einer Runde, die Leo XIV. im Papamobil gedreht hat.
Dahm: Ich hatte die Gelegenheit, ganz nahe dabei zu sein. Ich war weit vorne und hatte einen guten Blick aufs Geschehen. Die Ernennung ist im Rahmen der Allerheiligenmesse erfolgt, also einer großen Papstmesse. In die Liturgie war ein eigener kleiner Ritus eingebaut, der eben diese Erhebung zum Kirchenlehrer beinhaltet. Und das war keine besonders große oder pompöse Sache, das hat gleich zu Beginn der Messe stattgefunden.
Es erinnerte ein bisschen an eine Selig- oder Heiligsprechung, denn dieses große Portrait von John Henry Newman hing an der Fassade des Petersdoms. In diesem Ritus tritt Marcello Kardinal Semeraro, das ist der Präfekt für die Selig- und Heiligsprechungen, vor den Papst und bittet dann formell in einem vorgegebenen Ritus um die Erhebung, woraufhin der Papst ganz feierlich eine lateinische Formel spricht.
Die Fahrt im Papamobil, die kam dann im Anschluss an die Messe, sehr zur Freude der Anwesenden, dass der Papst die Menschen begrüßt hat auf dem Petersplatz.
DOMRADIO.DE: Welche Impulse könnte John Henry Newman denn als neuer Kirchenlehrer für die globale Kirche geben, aber auch hier für uns in Deutschland?
Dahm: Es ist gar nicht so leicht, da etwas herauszugreifen, weil Newman ein sehr umfassendes Werk hinterlassen hat. Ich würde zwei Punkte herausgreifen wollen: Newman war in der ersten Hälfte seines Lebens Anglikaner und ist dann konvertiert zur katholischen Kirche aufgrund seiner theologischen Überzeugung. Er ist 1845 übergetreten, zu einer Zeit als er sich sehr intensiv mit der Entwicklung der christlichen Lehre und der Dogmen beschäftigt hat.
In allen Konfessionen gibt es ja Überzeugungen, die nicht zwingend wörtlich so in der Bibel zu finden sind, die also in historischen Entwicklungen zustande kamen. Und Newman hat sehr viel darüber nachgedacht, wann so eine Entwicklung legitim ist und wann nicht. Das Spannende an ihm ist, er war der Überzeugung, dass Glaube organisch wächst, also wie ein Organismus kein starres Gebilde ist.
Das beinhaltet auch den Gedanken, dass man im Glaubensverständnis wachsen kann, dass also spätere Generationen Aspekte des Glaubens tiefer verstehen können als vorherige. Das ist eigentlich kein so selbstverständlicher Gedanke, weil es oft auch in der christlichen Tradition die Überzeugung gibt, je weiter wir zu den Ursprüngen kommen, umso authentischer ist der Glaube.
DOMRADIO.DE: Es erscheint in der heutigen Zeit vielleicht etwas ungewöhnlich, dass damit ein sehr positiver Begriff vom Dogma einhergeht.
Dahm: Newman hat in späteren Jahren eine sogenannte Zustimmungslehre entwickelt und sagt, es geht nicht darum, dass man als gläubiger Christ zufällig mit allen einzelnen Dogmen übereinstimmt, sondern dass man ein grundsätzliches Vertrauen darauf hat, dass die Kirche in ihrer Lehre sozusagen die authentische Auslegerin der Offenbarung ist.
Josef Ratzinger hat später einmal gesagt, der Glaube kommt vom Hören, nicht vom Ausdenken, das ist im Grunde das, was man schon bei Newman findet. Und diese grundsätzliche Entscheidung hat aber rationale Gründe und man könnte jetzt vieles mehr aufzählen. Die Betonung des Gewissens war bei ihm beispielsweise sehr zentral, er war da auch ein Vorreiter des Zweiten Vatikanischen Konzils.
Er hat sich sehr viel mit Bildung beschäftigt, mit intellektueller Redlichkeit. Das sind also alles Themen, die heute noch sehr aktuell sind, also mit der Verbindung von Denken, Glauben, Wissenschaft und Kirche. Letztlich kann man vielleicht noch sagen, dass Newman ein Zeitgenosse von Charles Darwin im England des 19. Jahrhunderts war und dessen Wirken auch sehr interessiert verfolgt hat. Deswegen könnte man vielleicht etwas provokant sagen, wie Darwin in der Biologie, so hat Newman in der Theologie den Glauben als Evolutionsprozess beschrieben und deswegen kann man ihn vielleicht in gewisser Hinsicht als so etwas wie den "Charles Darwin der katholischen Kirche" bezeichnen.
DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich persönlich von der Ernennung und was sollte die Kirche auch daraus lernen?
Dahm: Also ich würde mir wünschen, dass Newman nicht nur zitiert, sondern eben jetzt auch wieder vermehrt gehört wird. Man kann von ihm lernen, dass es einen aufgeklärten Optimismus geben darf, das hat auch Papst Leo gestern in der Predigt so hervorgehoben: Im Denken, im Gewissen und in der Bildung.
Im Mai habe ich bei DOMRADIO.DE zum Konklave gesagt, dass Papst Leo auch ein Papst des Intellekts ist. Newman war sehr inspiriert durch Papst Leo den Großen und wurde dann von Leo XIII. zum Kardinal erhoben - jetzt von Leo XIV. zum Kirchenlehrer. Newman ist auch ein Heiliger und ein Kirchenlehrer, der uns ins Gedächtnis rufen sollte, Lagerdenken zu überwinden. Das ist übrigens auch eine Hoffnung, die ich mit diesem noch jungen Pontifikat von Leo XIV. verbinde.
Das Interview führte Markus Poschlod.