DOMRADIO.DE: Sie haben für Ihre Untersuchung 148 Ordensleute aus Österreich, Frankreich und der Schweiz befragt. Was sind die häufigsten Gründe, warum sich Menschen für ein Ordensleben entscheiden?

Isabelle Jonveaux (Soziologin und Leiterin des Pastoralsoziologischen Instituts (SPI) der Westschweiz): Meine Untersuchung zeigt, dass heutzutage die Spiritualität der wichtigste Grund für einen Ordenseintritt ist. Dabei spielt die jeweilige Spiritualität der Gemeinschaft, in der die Frauen und Männer eintreten, eine große Rolle. Und auch das Gemeinschaftsleben im Orden ist besonders wichtig.
DOMRADIO.DE: Wie hat sich die Motivation zum Ordenseintritt in den letzten Jahrzehnten verändert?
Jonveaux: Es hat sich besonders stark verändert, dass man früher wegen der spezifischen Aufgaben eines Ordens in eine bestimmte Gemeinschaft eingetreten ist. Also etwa, um Krankenschwester zu werden oder in der Schule zu arbeiten. Das suchen die Menschen, die heute in einen Orden eintreten, nicht mehr. Vielmehr ist heute der Wunsch groß, das ganze Leben lang spirituell zu leben.
DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielen dabei die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen? Schließlich war ein Ordenseintritt etwa vor hundert Jahren gerade für Frauen ein Lebensmodell, das eine gute Ausbildung ermöglichte.

Jonveaux: Besonders für die Frauen hat sich hier viel verändert. Heutzutage können Frauen Krankenschwestern oder Lehrerinnen werden, ohne Mitglied in einem Orden zu sein. Diese Berufe können sie heute auch ausüben, wenn sie verheiratet sind. Besonders die Gemeinschaften, die sich sozialen Aufgaben widmen, tun sich heutzutage schwer damit, Novizinnen zu finden. Zudem treten die Bewerberinnen eben auch eher aus spirituellen Gründen ein.
DOMRADIO.DE: Wie verändern diese Entwicklungen in der Motivation für einen Eintritt das Ordensleben insgesamt?
Jonveaux: Die jungen Menschen, die sich heute für einen Ordenseintritt interessieren, haben große Erwartungen an das Gebetsleben der Gemeinschaft – besonders an das Chorgebet. Sie erwarten in der Liturgie und der Musik eine bestimmte Qualität. Das ist sehr wichtig geworden. Auch das Gemeinschaftsleben hat an Bedeutung gewonnen: Die Interessierten wünschen sich, dass man sogenannte Qualitätszeiten in der Gemeinschaft erleben kann.
DOMRADIO.DE: Haben Sie bei der Motivation für einen Ordenseintritt Unterschiede zwischen Männern und Frauen festgestellt?
Jonveaux: Die Frage des Gemeinschaftslebens ist für die Frauen wichtiger als für die Männer. Bei den Ordensmännern war dafür die Motivation der Nachfolge Christi präsenter als bei den Frauen. Früher hatte die Frage nach dem Beruf für die meisten Ordensfrauen eine größere Bedeutung als heute, sie bleibt aber wichtig – vor allem gibt es den Wunsch, Care-Arbeit zu verrichten, also etwas für andere zu tun.

DOMRADIO.DE: Viele vor allem im 19. Jahrhundert entstandene Orden mit sozialen Aufgaben, die einst Unmengen von Mitgliedern hatten, sterben gerade aus. Bei den traditionellen und kontemplativen Orden gibt es zwar auch einen Rückgang, aber nicht so gravierend. Hat das auch mit den von Ihnen untersuchten Gründen für einen Ordenseintritt zu tun?
Jonveaux: Viele dieser zahlreichen Frauengemeinschaften aus dem 19. Jahrhundert wollten direkt auf ein soziales Bedürfnis der Gesellschaft antworten. Heute ist das nicht mehr so wichtig, weil meist der Staat sich etwa um das Schulwesen und die Sozialarbeit kümmert. Es ist zudem auch kein bedeutender Grund mehr für einen Eintritt. Für diese Kongregationen ist das Überleben sehr schwierig.
Bei den kontemplativen Orden ist der Kern des Klosterlebens die Spiritualität – das hat sich nicht verändert. Diese Gemeinschaften hatten nie das Ziel, direkt auf ein Bedürfnis der Gesellschaft zu reagieren. Das bedeutet, dass gesellschaftliche Veränderungen das Leben in diesen Klöstern nicht verändern. Deshalb ist die Situation dort – in Anführungszeichen – ein wenig besser.
DOMRADIO.DE: Gibt es bei den Gründen für einen Ordenseintritt auch kulturelle oder nationale Unterschiede? Kurz gefragt: Ist das Ordensleben in Mitteleuropa nicht so attraktiv wie in einem afrikanischen Land?
Jonveaux: Ich habe auch das Klosterleben in Westafrika untersucht. Dort spielt noch eine Rolle, dass der Ordenseintritt eine Möglichkeit der Emanzipation der Frauen ist: Man kann im Kloster eine Ausbildung bekommen und steht nicht mehr unter der Autorität eines Mannes, also des Vaters oder des Ehemanns. Auch für afrikanische Männer ist das Ordensleben attraktiv, weil es eine Ausbildung oder ein Studium ermöglicht und den sozialen Status verbessert. Das war vor ungefähr 70 Jahren auch in Europa noch so.

DOMRADIO.DE: Spielen die Gründe für den Ordenseintritt auch eine Rolle, wenn Ordensleute darüber nachdenken, ihre Gemeinschaft zu verlassen?
Jonveaux: Die Eintrittsgründe können auch genau die Gründe sein, die zu einem Austritt führen. Das Gemeinschaftsleben ist oft ein Grund für den Eintritt in eine Ordensgemeinschaft, aber im Alltag stellt sich dann heraus, dass das nicht so leicht zu leben ist. Als ich die Askese im Ordensleben untersucht habe, ist herausgekommen, dass das Gemeinschaftsleben oft die größte Askese für die Mönche und Nonnen darstellt.
Das gilt besonders für jüngere Leute, die eintreten – auch wenn viele heutzutage beim Ordenseintritt eher älter sind. Sie merken dann aber, dass es schwierig ist, in eine Gemeinschaft einzutreten, wenn das Durchschnittsalter hoch ist. Es gibt Orden, die sich heutzutage schwer damit tun, jüngere Menschen in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Sie wollen nicht akzeptieren, dass die neuen Mitglieder andere Themen mitbringen. Das kann dazu führen, dass diese Novizinnen und Novizen am Ende austreten.
DOMRADIO.DE: Lassen sich aus Ihrer Studie Empfehlungen an die Orden formulieren?
Jonveaux: Es ist für die Ordensgemeinschaften sehr wichtig wahrzunehmen, dass sich das Profil der Eintretenden verändert hat: Sie sind im Durchschnitt älter, haben meist schon studiert und alleine gelebt. Die Gemeinschaften müssen das in der Ausbildungszeit bedenken und verhindern, dass es eine Infantilisierung im Noviziat gibt. Denn die Novizinnen und Novizen, die beim Ordenseintritt zwischen 30 und 40 Jahre alt sind, dürfen sie nicht den Eindruck bekommen, dass sie wie Kinder behandelt werden. Dann funktioniert das Noviziat nicht.
Außerdem müssen die Orden wahrnehmen, dass sich die Motive für einen Eintritt weiterentwickelt haben. Das bedeutet auch, dass die Schwestern und Brüder, die schon viele Jahre in der Gemeinschaft sind, oft andere Gründe hatten, in den Orden einzutreten, als diejenigen, die heutzutage im Noviziat sind. Die Älteren sollten versuchen zu verstehen, was die jüngere Generation vom Ordensleben erwartet.
Das Interview führte Roland Müller.
Information der Redaktion: Isabelle Jonveaux ist Soziologin und leitet das Pastoralsoziologische Institut (SPI) der Westschweiz. Jüngst wurde sie auf den Lehrstuhl für Globales Christentum und interreligiöse Theologie in Fribourg in der Schweiz berufen.