Warum SOS-Kinderdörfer aktiv gegen Zwangsheirat kämpfen

"Kinderhochzeiten sind oft tödlich"

Im Niger werden Dreiviertel aller minderjährigen Mädchen zwangsverheiratet. Welche Ursachen hat das? Und was hilft dagegen? Boris Breyer von SOS-Kinderdörfer gibt Antworten.

 (DR)

Boris Breyer (Pressevertreter bei SOS-Kinderdörfer): Wir helfen den jungen Mädchen konkret, zum Beispiel mit Gesprächsgruppen. Und wir klären Eltern und - in diesen Ländern ganz wichtig - religiöse Führer über die Gefahren auf: damit sie die Rechte und Bildung dieser Mädchen, ebenso spätere Eheschließungen unterstützen. Wir versuchen, den Mädchen den Zugang zum Schulunterricht zu ermöglichen: Das ist wirklich die allerwichtigste Maßnahme zur Bekämpfung von Frühehen.

Unterm Strich kann man sagen, dass ausgebildete Mädchen später heiraten, weniger und gesündere Kinder haben und dafür sorgen, dass ihre Töchter ebenfalls wieder zur Schule gehen. Generell geht es viel darum, Alternativen zu frühen Eheschließungen zu bieten. Wir stellen etwa geschützte Räume zur Verfügung, in denen Mädchen Selbstvertrauen aufbauen und sich weiterbilden können und Lebensentwürfe jenseits von früher Eheschließung und Mutterschaft durchspielen.

DOMRADIO.DE: Wie kann diese Kampagne konkret die betroffenen Eltern und Kinder erreichen?

Breyer: Wir fahren direkt zu den betroffenen Familien, sprechen mit den Eltern, mit den Kindern; wir hören ihre Sorgen an. Wenn wir das Gefühl haben, dass wir an einer Stelle helfen müssen, dann nehmen wir sie in unsere Programme auf. Wir versuchen, den Familien ein existenzsicheres Einkommen zu ermöglichen und dadurch den Druck zu reduzieren, die Töchter aus finanziellen Gründen zu verheiraten.

Wir geben Infoveranstaltungen - da richten wir uns direkt an Eltern, Lehrpersonal und andere Entscheidungsträger. Auch über unsere SOS-Schulen, Mädchenbildungsprogramme, Lernzentren erreichen wir die Menschen direkt.

DOMRADIO.DE: Wenn ein Mädchen minderjährig ist und eine Ehe gegen ihren Willen eingehen muss - wie sieht dann ihr Alltag aus?

Breyer: Für ein minderjähriges Mädchen ist eine Hochzeit natürlich nicht der schönste Tag des Lebens. Er bedeutet eher ein abruptes Ende der Kindheit. In der Regel müssen die Kinder die Schule abbrechen. Sie führen ein Leben in Abhängigkeit und Unterdrückung, müssen den Haushalt führen und ihrem Mann zur Verfügung stehen.

Es kann sogar noch viel schlimmer kommen: Die Folgen von Kinderhochzeiten sind oft tödlich. Jedes Jahr sterben tausende junge Frauen im Alter von 15 bis 19, bis 20 Jahren an Komplikationen bei der Schwangerschaft und bei der Geburt. Es ist sogar die häufigste Todesursache für Mädchen in dieser Altersgruppe. 

DOMRADIO.DE: Für uns in Europa ist völlig unvorstellbar, ein kleines Mädchen zu verheiraten. Was sind die Ursachen: Wie kommen Eltern dazu, ihre Tochter zu verheiraten?

Breyer: Die Gründe sind tatsächlich sehr komplex und haben viel mit tief verankerten sozialen Normen zu tun. In den meisten Fällen aber kommen Armut und finanzielle Nöte hinzu. Erstens möchten die Eltern ihre Töchter gut versorgt wissen und zweitens steigt mit zunehmendem Alter der Braut die Mitgift an, die der Familie des Bräutigams geschuldet wird. 

DOMRADIO.DE: Spielen da auch Traditionen eine Rolle?

Breyer: Ja sicherlich. Das sind die sozialen Normen über lange Zeiten. Normal war, dass man die Töchter für Geld weggegeben hat und dass man davon ausgeht, dass die Töchter dann wiederum auch mehr Kinder bekommen, die dann die Familie im Alter versorgen können usw. 

DOMRADIO.DE: Wir haben schon darüber gesprochen, dass Sie ihre Kampagne ausweiten wollen und Bildung ein Schlüssel gegen Zwangsheirat ist. Wie zuversichtlich sind Sie, dass das Phänomen Zwangsheirat im Niger zukünftig abnehmen wird?

Breyer: Es ist so, dass Mädchen, die nach der Grundschule eine weiterführende Schule besuchen, deutlich seltener vor ihrem 18. Geburtstag heiraten. Deswegen sind gute Schulen auch das beste Mittel gegen Diskriminierung und Unterdrückung. Gebildete Mädchen sind schlicht stärker und können besser über ihr eigens Lebens bestimmen.

Und der Fortschritt durch Aufklärung ist messbar, aber er geht immer noch deutlich zu langsam voran. Und der Fortschritt ist ungleich verteilt. Für Mädchen aus armen Familien hat sich noch nicht so wahnsinnig viel zum Besseren gewendet, aber wir sind guter Hoffnung, dass wir mit unserer Aufklärungsarbeit noch viel erreichen können. 

Das Gespräch führte Milena Furman.


SOS-Kinderdorf / © Maurizio Gambarini (dpa)
SOS-Kinderdorf / © Maurizio Gambarini ( dpa )
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DR