DOMRADIO.DE: Wie bewerten Sie diesen Brief?
Thomas Kycia (deutsch-polnischer Journalist und Theologe): Dieser Brief war revolutionär in einer Zeit, in der es praktisch keine deutsch-polnischen Beziehungen gab. 1965 war die Feindschaft zwischen Deutschen und Polen noch groß. Die polnischen Kommunisten schürten Ängste, dass die Deutschen sich die ehemaligen deutschen Ostgebiete wieder zurückholen würden. 20 Jahre nach dem Krieg in Polen hatte fast jede Familie Kriegsopfer zu beklagen und da wollte man sich mit den Deutschen nicht versöhnen.
Und interessanterweise hat man auf deutscher Seite trotz eines Schuldbewusstseins diese nicht ausgesprochen. Alle, auch die deutschen Katholiken, haben lange auf die Nationalsozialisten gezeigt und wollten nicht wahrhaben, dass das ganze Volk für dieses Desaster verantwortlich gewesen war. Und die Verbände der Heimatvertriebenen hatten großen Einfluss auf die CDU-Regierung. Vor dem Hintergrund kann man ermessen, wie weit sich die polnischen Bischöfe aus dem Fenster hinausgelehnt hatten.
DOMRADIO.DE: In einer Zeit, in der die Gräueltaten der Deutschen den Polen noch sehr präsent waren, baten die Bischöfe um Vergebung und gewährten Vergebung. Wie wurde das in Polen aufgenommen?
Kycia: Vergebung zu gewähren war bei Weitem nicht so problematisch, obwohl das die Kommunisten auch nicht gerne hörten, denn das empfanden sie als Einmischung in die Politik. Aber die Schuld der Polen anzusprechen, das war wie eine Bombe, sogar in katholischen Kreisen.
In den Wochen danach und in den Weihnachtspredigten mussten sich die Bischöfe erklären: Warum bitten wir die Deutschen um Vergebung? Und aus unseren Recherchen und Gesprächen mit Zeitzeugen für das Buch "Wir vergeben und bitten um Vergebung" wissen wir, dass das auch in katholischen und intellektuellen Kreisen auf Unverständnis stieß.
DOMRADIO.DE: Wie haben die polnischen Bischöfe ihre Initiative begründet?
Kycia: 1966 stand die Tausendjahrfeier der Christianisierung Polens an, zu der Bischöfe aus ganz Europa eingeladen wurden und man war sich einig, dass die Einladung an die Deutschen anders aussehen sollte. Aus Gesprächen und Notizen wissen wir, dass Bischöfe einen radikal-christlichen Schritt wagen wollten.
Stefan Wyszynski, der Primas von Polen, hatte sich schon mit den deutschen Bischöfen beim Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom getroffen. Es hatte Sitzungen, informelle Treffen und Abendessen gegeben, bei denen man vorgefühlt hatte, was denn da möglich sein wird.
Und dann war es vor allem der polnische Bischof Bolesław Kominek, der diese Initiative vorangetrieben hat, weil er der Meinung war, dass man als Christen die eigene Schuld – auch wenn diese nicht so groß wie die der Nazis war - anzuerkennen muss, weil sonst Versöhnung nicht gelingt.
DOMRADIO.DE: Aber die Antwort der deutschen Bischöfe am 5. Dezember 1965 war nicht das, was Kominek erwartet hatte….
Kycia: Wie gesagt, die polnischen Bischöfe hatten sich weit aus dem Fenster gelehnt, das war nicht ganz ungefährlich, denn Polen war damals keine Demokratie. Und dann kam eine Antwort der deutschen Bischöfe, die halbherzig und sehr diplomatisch formuliert war, weil sie auch auf die Heimatvertriebenen in Deutschland Rücksicht nahm.
Und erst dann kam diese Hasswelle der polnischen Kommunisten, eine richtige Schmutzkampagne. Unsere Gesprächspartner erzählten uns, dass sich vor den Bischofshäusern Menschenmassen ansammelten mit Transparenten, auf denen stand: „Nicht in unserem Namen!“ und „Volksverräter!“. Die polnischen Bischöfe saßen plötzlich zwischen allen Stühlen.
DOMRADIO.DE: Und wie haben sie es dann geschafft, dass diese Aktion doch noch zu einem Erfolgsprojekt wurde?
Kycia: Der Umschwung kam, als die Kommunisten Papst Paul VI. verboten, zu der Tausendjahrfeier nach Polen zu kommen. Das hat die polnischen Katholiken empört, denn sie wollte sich nicht diktieren lassen, ob der Papst kommt oder nicht und sie wurden sich bewusst, dass es eine Kampagne war. Das war im Frühjahr 1966.
Damals begann ein vielfacher Austausch zwischen Einzelpersonen. Bischof Kominek zählte dazu und der spätere Papst Kardinal Wojtyla, der ebenfalls Deutsch gesprochen hat. Aber auch unter den Laien gab es immer mehr, die den persönlichen Kontakt suchten, etwa der katholische Publizist und Politiker Stanisław Stomma; oder Jerzy Turowicz, der die Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny“ zur Stimme der weltoffenen polnischen Katholiken machte. Oder der spätere Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, der mit Günter Särchen aus dem Bistum Magdeburg befreundet war, der die Aktion Sühnezeichen mitbegründet hat. Das waren alles Pioniere dieser deutsch-polnischen Versöhnung.
Sie beruhte auf persönlichen Kontakten und Vertrauen. Tadeusz Mazowiecki hat mir einmal erzählt, dass er diesen Menschen geglaubt hat, dass sie es nicht politisch meinten, sondern moralisch; dass sie Verantwortung übernehmen wollten, obwohl sie selber aufgrund ihres Alters nicht schuldig waren. Aber sie meinten es ernst, sie kamen mit gesenktem Haupt und wollen diese Versöhnung.
DOMRADIO.DE: Wofür stehen der Brief und der Jahrestag heute?
Kycia: Ich sehe ihn als ein Dokument, das zu den Fundamenten des heutigen Europas zählt. Wir wissen aus Privatnotzitzen von Bischof Kominek, dass er diese Vision schon damals hatte: „Europa ist die Zukunft, Nationalismen sind von gestern“, schrieb er. Diese Botschaft ist heute aktueller denn je.
Aber meine Sorge ist, dass sie unter die Räder der allgemeinen Erinnerungskultur fällt, denn ich frage mich: Haben denn heute die polnischen und die deutschen Bischöfe tatsächlich eine Idee, wie wir uns in die Zukunft bewegen wollen als zwei Nationen, die nicht nur nebeneinander wohnen, sondern auch miteinander leben?
Wir haben einen gemeinsamen Feind im Osten und deswegen stehen wir auf einer Seite. Aber das ist für mich aus der christlichen Sicht zu wenig, mir fehlt die gemeinsame Vision. Müssten nicht gerade wir als Teile einer Weltkirche Antworten geben?
Das Interview führte Ina Rottscheidt.