Fast wäre der Brief vom 18. November 1965 nicht angekommen: Der polnische Bischof Bolesław Kominek hatte ihn dorthin geschickt, wo Kardinal Frings und die deutsche Delegation während des Zweiten Vatikanischen Konzils in Rom wohnten. Der damalige Vorsitzende der deutschen Bischöfe war aber gerade für einen Arztbesuch in Deutschland und der Brief rutschte im Posteingang immer weiter nach unten.
Acht Tage später erkundigte sich Kominek bei Frings, was er von dem Inhalt des Briefes halte; dabei stellte sich heraus, dass er noch nicht zugestellt wurde.
Joachim Oepen erzählt diese Anekdote, während er sich weiße Stoffhandschuhe überstreift und einen Aktenordner mit vergilbten Seiten vorsichtig aus einer Schutzhülle hervorholt. Er leitet das Historische Archiv des Erzbistums Köln, wo besagter Brief bis heute verwahrt wird.
"Ausgesprochen mutig", nennt Oepen die Initiative der polnischen Bischöfe, denn in Polen war die Stimmung 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges angesichts der historischen Schuld der Deutschen nach wie vor ablehnend.
Emblematischer Satz
Der Brief enthielt eine Einladung zur Tausendjahrfeier der Christianisierung Polens im Jahr 1966, er warb um Verständnis für das polnische Sicherheitsbedürfnis, bezeugte aber auch Verständnis für die deutschen Heimatvertriebenen und endete mit dem emblematischen Satz: "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung".
Alle Bischöfe unterzeichneten, Joachim Oepen deutet vieldeutig lächelnd auf die Unterschriftenliste: In blauer spitzer Tintenschrift steht an vierter Stelle der Name "Karol Józef Wojtyła" - der spätere Papst war damals Erzbischof von Krakau.
Heute gilt der Brief als Symbol der beginnenden Annäherung und Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen. Die Initiative ging zurück auf Bolesław Kominek, damals Weihbischof von Breslau. "Er war in Schlesien aufgewachsen, er sprach deutsch, polnisch und französisch und hatte damals schon eine offene europäische Perspektive", erklärt Urszula Pękala, Professorin für Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität des Saarlandes.
Erste Annäherungen zwischen deutschen und polnischen Bischöfen hatte es bereits beim Zweiten Vatikanischen Konzil in Rom gegeben. Zudem stand die Tausendjahrfeier der Christianisierung Polens im Jahr 1966 an: "Die polnischen Bischöfe dachten damals, dass man dieses Jubiläum nicht im wahrhaft christlichen Geist begehen könne ohne die Erfüllung des Gebots der Nächsten- und Feindesliebe", so die Expertin. Darum wurde die Einladung mit einer Versöhnungsbotschaft verbunden.
Kritik an der Initiative
In Polen war dieser Brief jedoch ein Tabubruch: Es herrschte Unverständnis, wie man den Deutschen vergeben und um Vergebung bitten konnte, sagt Pękala: "Die Bischöfe wurden als Verräter bezeichnet. Man warf ihnen Einmischung in die Politik vor." Es folgten antikirchliche Kampagnen, mit denen das kommunistische Regime das Vertrauen in die Kirche erschüttern wollte.
"In den Archiven finden wir dramatische Zuschriften, die von der tiefen Verletztheit der Menschen zeugen, die traumatische Erfahrungen im Krieg gemacht hatten."
Monatelang mussten sich die polnischen Bischöfe erklären. Zudem fiel die Antwort der deutschen Bischöfe vom 5. Dezember 1965 sehr zurückhaltend aus: "Inhaltlich haben sie dem Brief entsprochen", sagt der Kölner Archivleiter Oepen, "aber der Tonfall wurde als übermäßig diplomatisch wahrgenommen und mit Rücksicht auf die Heimatvertriebenen sprachen sie die Oder-Neiße-Linie nicht an. Das war der weiße Elefant im Raum."
Die polnischen Bischöfe waren enttäuscht, dass ihre Amtsbrüder die Anerkennung der polnischen Westgrenze ausklammerten – anders als die Evangelische Kirche Deutschlands in ihrer kurz zuvor im Herbst 1965 erschienenen Ost-Denkschrift.
Grundlage für ein vereintes Europa
Dennoch war der Briefwechsel der erste entschiedene Schritt, um die nachbarschaftlichen Beziehungen zu ordnen. "Die deutsch-polnische Versöhnung war – ähnlich wie die deutsch-französische – eine der Grundlagen für ein vereintes Europa", sagt die Theologin Pękala. "Und er war auch eine der ersten praktischen Rezeptionen des Zweiten Vatikanischen Konzils: der Geist des Dialogs, das Lesen der Zeichen der Zeit."
Für die ab 1969 regierende sozial-liberale Koalition unter Kanzler Willy Brandt (SPD) bedeutete das Engagement der Kirchen Rückenwind. Die Kirchen seien dem Dialog der Politik voraus gewesen, sagte Brandt später. Die Zugeständnisse der Koalition gegenüber Polen führten dann umgekehrt zu einer Annäherung auf kirchlichem Gebiet.
Auch für den Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki ist dieser Brief bis heute eine "unvorstellbare Geste der Großherzigkeit". Als Mitglied der deutsch-polnischen Kontaktgruppe der Deutschen Bischofskonferenz wird er zum Jahrestag an den offiziellen Feierlichkeiten der deutschen und polnischen Bischöfe in Breslau teilnehmen.
Auch 60 Jahre später, findet er, geht von diesem Brief eine wichtige Signalwirkung aus: "Es sollte uns ein Vorbild sein, dass Versöhnung und Vergebung auch heute gelebt werden können!"