Beide Institutionen haben eine besondere Atmosphäre, oder?
Ja, und man spürt sofort: Hier steckt über Jahrhunderte gesammeltes Wissen. In der Bibliothek liegen unzählige Handschriften und Bücher – lateinisch, griechisch, hebräisch – die Handschriftensammlung der Päpste ist übrigens die umfangreichste der Welt. Diese Schätze aus Papier und Pergament stehen Forschenden aus aller Welt mit einem nachgewiesenen Forschungsvorhaben offen. Wer qualifiziert ist, darf hier studieren, unabhängig von Religion oder Herkunft. Etwa 6.000 Wissenschaftler nutzen das jedes Jahr.
Also keine geheime Schatzkammer, sondern eher ein Forschungszentrum?
Genau. Die Bibliothek gibt es seit der Renaissance. Papst Nikolaus V. wollte damals, dass Gelehrte Zugang zu den Kodizes bekommen. Und schon 1475 gab es die erste päpstliche Bulle dazu, das war das Gründungsdokument der Vatikanbibliothek vor 550 Jahren. Heute ist die Bibliothek nicht nur ein Ort zum Blättern, sondern setzt auch auf digitale Technologien, um das Erbe zu sichern und auch online zugänglich zu machen.
Und das Archiv? Da denkt man gleich an das „Geheimarchiv“ …
Ja, diesen Namen hatte es tatsächlich lange. Aber "secretum" bedeutete im Lateinischen nicht nur "geheim", sondern vor allem "abgetrennt, privat" – nicht mysteriös. Das "Archivium Secretum" war einfach das Privatarchiv des Papstes. Weil aber das Wort "geheim" so viel Phantasie angeregt hat, hat Papst Franziskus die Dokumentensammlung 2019 wieder zurückbenannt in Apostolisches Archiv.
Und was liegt dort so?
Im Vatikanischen Archiv liegen die Aufzeichnungen und Dokumente der Kirchenleitung, und da die Päpste seit dem Mittelalter Kontakte in die ganze Welt pflegten, liegen dort eben auch Dokumente aus der ganzen Welt. Unter anderem die älteste heute bekannte Handschrift auf Pergament in mongolischer Sprache, aus dem 13. Jahrhundert – die ist im Vatikan, nicht in Ulan Bator.
Im Archiv liegen Unterlagen zu mehr als 1.000 Jahre Kirchengeschichte, die frühesten aus dem 8. Jahrhundert. Millionen von Dokumenten, Pergamenten und Urkunden auf 85 Regalkilometern. Das braucht ein gutes Ordnungssystem, und weil es das hat, gilt das Vatikan-Archiv als Mutter aller Archive.
Wer darf da rein?
Forschende, die sich mit ihrem Forschungsvorhaben bewerben und akzeptiert werden – wobei eigentlich alles akzeptiert ist, was akademisch-seriös ist, sogar wenn die Bewerber einen ausgesprochen kirchenkritischen Hintergrund haben. Man darf dann für die beantragten Tage oder Wochen in den Lesesaal und kann die Faszikel bestellen, für die man sich interessiert. Einsehen kann man aktuell Material bis zum Ende des Pontifikats von Pius XII., also bis 1958.
Und wer leitet das Ganze?
Seit März 2025 ist der italienische Erzbischof Giovanni Cesare Pagazzi Archivar und Bibliothekar der Kirche. Das ist ein altehrwürdiges Kurienamt, an dem sich auch zeigt, dass Archiv und Bibliothek bis ungefähr 1600 eine Einheit waren.
Also zwei Orte, die Tradition und Technik verbinden und Wissen nicht nur bewahren, sondern nutzbar machen.
Genau. Sie sind ein Stück Gedächtnis der Kirche – und offen für alle, die ernsthaft forschen wollen.