Stuttgart im August vergangenen Jahres: Erstmals besucht der US-Amerikaner Peter Einstein die Heimatstadt seiner Großeltern, Elisabeth und Leo Einstein. Am Kiosk kauft er sich eine Ausgabe der "Stuttgarter Zeitung" - und fällt aus allen Wolken.

In einem ganzseitigen Beitrag berichtet das Blatt über Forschungen zu Papst Pius XII. (1939-1958) - und erwähnt dabei Einsteins Großmutter Elisabeth.
Ein Team um den Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf war im Archiv des Vatikanischen Staatssekretariats auf ein Bittschreiben Elisabeth Einsteins gestoßen - und auf einen Teil der Einstein'schen Familiengeschichte, von der Peter und sein Bruder Michael bisher nichts wussten. In dem Brief schrieb ihre Großmutter:
"Ich wurde im Jahre 1899 als Tochter von Herrn Geheimrat Prof. Dr. Gerstmann in Stuttgart geboren, und verheiratete mich 1922 mit Herrn Leo Einstein, hier. Wir haben drei Kinder im Alter von 17, 16 und 12 Jahren. (...) Mein Mann und meine drei Kinder sind Juden (...) Dieses und die übrigen Umstände zwingen uns, baldmöglichst auszuwandern, und zwar nach U.S.A. - (...) Da seit dem Krieg die Passagen in ausländischer Währung bezahlt werden müssen, sind wir gezwungen, uns diese vom Ausland zu beschaffen. Eine Passage für mich kostet in der 3. Klasse 209 Dollar, die der 'United States Lines' in Genua einzubezahlen wären. Sie bitte daher um Hilfe."
Das erste Fundstück dieser Art
Anfang Februar berichtete Wolf in Rom in einer Zwischenbilanz zu den Forschungen seines Teams: "Der Brief war der erste dieser Art, der mir am 5. März 2020 in die Hände fiel."
Drei Tage zuvor hatte der Vatikan die Archive zum Pontifikat Pius' XII. geöffnet. Historiker aus aller Welt waren angereist. Konnte die jahrzehntelange Debatte, warum Pius zum Holocaust geschwiegen hatte, nun beendet werden?

Zunächst verzögerte die Pandemie die Archivsuche. Doch Fachleute warnten ohnehin - ernsthafte Ergebnisse seien erst in drei bis fünf Jahren zu erwarten. Zudem umfasst Pius' Amtszeit mehr als den Zweiten
Weltkrieg: Ost-West-Spaltung und Beginn des Kalten Kriegs, Entkolonialisierung in Afrika und Südasien, Demokratisierung und beginnende Einigung Westeuropas, neue theologische Entwicklungen.
Annäherung über Ambivalenzen
Man könne sich der Gestalt Pacellis nur über seine Ambivalenzen nähern, schrieb der Historiker Simon Unger-Alvi Ende Dezember in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Am Deutschen Historischen Institut in Rom leitet er ein weiteres Forschungsprojekt zu Pius XII. in der Nachkriegszeit.
Als Mensch wie als Papst erscheine Pius XII. oft widersprüchlich, so Unger-Alvi: teils reaktionär, teils fortschrittlich. So habe Pius einiges für moderne Technik übrig gehabt und beim Thema Kolonialismus moderner gedacht als die damaligen Kolonialmächte England und Frankreich. Gleichzeitig war der Pacelli-Papst glühender Antikommunist.
Was teils bekannt war, belegen Funde in den Archiven. Pius XII. unterstützte gegen anfängliche Widerstände Frankreichs die Westbindung der Bundesrepublik Deutschland - statt eines von Stalin vorgeschlagenen neutralen geeinten Deutschlands. Gleichzeitig förderten er und Italiens Bischöfe die Gründung der "Democrazia Cristiana" gegen die italienischen Kommunisten.
Fast 10.000 Bittbriefe an Pius XII.
Das Wolf-Team entdeckte im März vor fünf Jahren schnell wesentlich mehr Bittbriefe von Juden. Weswegen man andere Recherchepläne aufgab und bis heute in 1.100 Archivschachteln aus sechs Archiven knapp 10.000 solcher Briefe fand - auf rund 17.400 Seiten und in 17 Sprachen. Entstanden ist daraus das Projekt "Asking the Pope for Help".
Dieses soll alle Bittschreiben "in einer kritischen Edition öffentlich zugänglich machen und so die Geschichten von Menschen, die die Nazis vernichten wollten, am Leben erhalten", sagt Barbara Schüler, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kirchengeschichts-Lehrstuhl der Universität Münster.

Zudem sollen die Ergebnisse im Sinne einer "Anti-Antisemitismuserziehung" didaktisch aufbereitet werden.
Zu einem knappen Dutzend Briefe konnte inzwischen der gesamte vorhandene vatikanische Vorgang rekonstruiert werden. Dazu mussten die Forscher in den Archiven verschiedener Kurienbehörden sowie bei Botschaften, Einwanderungsbehörden und in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem recherchieren.
Erste vorsichtige Ergebnisse
Als erste vorsichtige Ergebnisse nennt Wolf unter anderem: In den meisten Fällen wollten Papst und Kurie helfen, scheiterten aber oft an anderen Staaten, den Kriegswirren und der eigenen Bürokratie. Pius selbst bekam rund ein Zehntel aller Bittschreiben zu Gesicht; an der Kurie gab es sowohl Antisemiten wie Judenfreunde. Und warum schwieg Pius zum Holocaust, obwohl er davon wusste?
Er habe schon bei der Ermordung von 100.000 katholischen Polen durch die Deutschen geschwiegen, sagt Wolf und zitiert aus einem Brief des Papstes an den Würzburger Bischof Matthias Ehrenfried:
"Wo der Papst laut schreien möchte, legt ihm sein Amt Schweigen auf." - "Er schweigt", erklärt Wolf weiter, "weil er meint, über den Parteien stehen zu müssen. Jede Solidaritätsadresse an die eine oder andere Seite hätte unerwünschte Vereinnahmungen ausgelöst."
Zu späte Rückmeldung
Elisabeth Einsteins Brief wurde im Vatikan unter anderem von Giovanni Battista Montini, dem späteren Papst Paul VI., gelesen und bearbeitet.
Nach langem Hin und Her zwischen Kurienabteilungen, dem Rottenburger Bischof Johann-Baptist Sproll und dessen Ordinariat - die religionslose Elisabeth hatte sich 1936 taufen lassen - werden ihr irgendwann 200 Dollar Reisekosten zugesagt. Zu spät.
Über das Schicksal ihres Mannes und der beiden anderen Kinder ist den Forschern nichts bekannt. "Vermutlich wurden sie ermordet", sagt Wolf. Allein der Sohn Kurt Werner überlebt ein KZ in Riga.
Über dessen Erfahrungen konnten seine Söhne Peter und Michael Einstein dem Historiker-Team aus Münster berichten - nachdem sie erstmals von den Bemühungen ihrer Großmutter gelesen hatten, dem Holocaust auch mit Hilfe des Vatikans zu entgehen.