Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus stellt Bericht vor

Widersprüchliche Wahrnehmungen zu Judenfeindlichkeit

Rund zwei Jahre hat der Expertenkreis Antisemitismus in Deutschland untersucht. Das Ergebnis ist 300 Seiten dick und zeigt vor allem widersprüchliche Wahrnehmungen in der Gesellschaft.

Autor/in:
Anna Mertens
Antisemitismus: Juden in Deutschland sehen wachsende Bedrohung / © Arne Dedert (dpa)
Antisemitismus: Juden in Deutschland sehen wachsende Bedrohung / © Arne Dedert ( dpa )

Weniger antisemitische Haltungen, aber gefühlt mehr antisemitische Bedrohungen? Wann ist Kritik am Staat Israel antisemitisch, und welchen Einfluss haben Religionen? Der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus ist ein Werk von 300 Seiten geworden. Rund zwei Jahre haben die neun Experten - darunter nach Kritik an der Besetzung zwei jüdische Wissenschaftler - sich mit der Thematik beschäftigt. Das Ergebnis scheint so komplex wie die Lage.

Der Bericht beschreibt Formen von Judenfeindlichkeit unter Deutschen und vergleicht hierzu repräsentative Erhebungen der vergangenen Jahre. Auch religiös geprägter Antisemitismus, insbesondere ein jüngst in den Fokus gerückter muslimischer Antisemitismus, werden untersucht. Rund 550 Juden ab 16 Jahren wurden zu ihren Erfahrungen mit Antisemitismus befragt.

Analyse mit zentralen Forderungen

Der Bericht enthält eine Analyse bestehender Präventionsprogramme auf Bund- und Landesebene und formuliert zentrale Forderungen: etwa einen Antisemitismusbeauftragten, eine Bund-Länder-Kommission und mehr dauerhafte Projekt- und Forschungsförderung.

Aktuell sind unter dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland knapp 100.000 Mitglieder organisiert. Schätzungen zufolge dürfte die Zahl der in der Bundesrepublik lebenden Juden doppelt so groß sein.

Ins Auge springt in dem Bericht die Wahrnehmung in der Bevölkerung: Während Juden wachsenden Antisemitismus fürchten, sieht die nicht-jüdische Bevölkerung Antisemitismus grundsätzlich als Problem an - aber nicht als aktuell relevantes.

Nach Einschätzung des Expertenkreises gab es bislang "überraschend wenig Kenntnis darüber", wie Juden in Deutschland Antisemitismus erleben. Daher wurde eine Expertise am Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung unter Leitung von Andreas Zick in Auftrag gegeben. Hierzu zählten eine Online-Umfrage sowie eine qualitative Befragung jüdischer Akteure.

Judenfeindlichkeit habe zugenommen

Die Mehrheit der Befragten identifiziert sich als jüdisch und empfindet Israel als wichtigen Teil dieser jüdischen Identität. Viele Befragten klagen, dass sie sich in Deutschland oftmals als nicht voll zugehörig oder als andersartig fühlen. Drei von vier Befragten sehen Antisemitismus als ein eher großes oder sehr großes Problem in Deutschland an, 78 Prozent sind der Ansicht, Judenfeindlichkeit habe zugenommen, und 83 Prozent fürchten, sie werde weiter wachsen.

Die Mehrzahl gab an, in den vergangenen Monaten versteckte antisemitische Andeutungen erlebt zu haben. Knapp 30 Prozent berichteten über verbale Beleidigung oder Belästigung. Eine steigende Gefahr durch Antisemitismus geht dem Bericht zufolge von sozialen Medien aus. Drei Prozent haben demnach körperliche Übergriffe erlebt.

Sehr häufig wurden Muslime als Täter genannt - vor allem bei körperlichen Übergriffen. Viele Befragte melden jedoch antisemitische Vorfälle nicht.

Weniger "klassisch-antisemitische" Haltungen

Auf der anderen Seite analysiert der Bericht repräsentative Erhebungen zu antisemitischen Haltungen in der Bevölkerung. Hiernach haben "klassisch-antisemitische" Haltungen - etwa dass Juden zu viel Einfluss hätten oder andere Stereotype - seit Jahren abgenommen und wurden im vergangenen Jahr von rund fünf Prozent der Bevölkerung vertreten. Auch "sekundärer Antisemitismus" - etwa Vorbehalte gegenüber der Aufarbeitung des Holocaust - sinkt laut Bericht und lag zuletzt bei 26 Prozent.

Ausgeprägt ist allerdings Israel-bezogener Antisemitismus. Dieser lag dem Bericht zufolge zuletzt bei 40 Prozent. Hier komme es sicher auf den Kontext an, betonten die Experten. Verallgemeinerungen oder eine pauschale "Israel-Kritik" gingen in der Regel zu weit.

Besonders schwierig sei die Bewertung von muslimischem Antisemitismus. Zwar gebe es bislang wenige Untersuchungen, so die Experten. Aber die vorliegenden Studien zeigten, dass entscheidender als die Religion die Sozialisierung sei, etwa die Haltung zu Israel im Herkunftsland. In Interviews mit 18 Imamen hätten sich keine radikalen antisemitischen Stereotype gezeigt.

Aus Sicht der Experten braucht es mehr wissenschaftliche Erhebungen sowie ein regelmäßiges Monitoring antisemitischer Einstellungen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen.


Quelle:
KNA