Theologe Werbick wünscht sich Protest-Perspektive zu Ostern

"Gott ist der Horizontöffner"

Ostern ist das Fest der Erlösung, aber sind wir Christen angesichts der aktuellen Ereignisse wirklich erlöst? Der Fundamentaltheologe Jürgen Werbick sieht im Erlösungsgeschehen keinen Automatismus, sondern auch den Menschen gefordert.

Der Berg der Drei Kreuze in Vilnius, Litauen / © Wolfgang Noack (epd)
Der Berg der Drei Kreuze in Vilnius, Litauen / © Wolfgang Noack ( epd )

DOMRADIO.DE: Wir stehen vor den Kar- und Ostertagen 2022. Es geht um Tod und Auferstehung Jesu Christi, aber auch um unsere Auferstehung. Es geht aber auch um das Thema Erlösung. Was bedeutet Erlösung überhaupt?

Prof. Dr. Jürgen Werbick (em. Professor für Fundamentaltheologie in Münster): Erlösung ist – man sieht es nicht sofort – ein Bildwort. Lösen steckt da drin, erlösen und herauslösen. So versteht es auch die biblische Tradition: Gott löst heraus. Das ist die Idee, die ursprünglich auch etwa in den Sühneritualen Israels leitend gewesen ist.

Die Frage ist jetzt natürlich, was Herauslösung heißt und woraus herausgelöst wird. Da haben sich ganz viele Vorstellungen und auch viele theologische Modelle angelagert, die für Menschen von heute durchaus schwierig sein können. Auch das Thema Herauslösen aus einem Schuldverhängnis ist mit einer zwiespältigen Erinnerung verbunden.

Prof. Dr. Jürgen Werbick (privat)
Prof. Dr. Jürgen Werbick / ( privat )

In den Märchenüberlieferungen gibt es eine andere Spur, nämlich das Herauslösen aus einem Bann, die Auslösung aus einem Zwang, der auf uns liegt, aus einer Ausweglosigkeit, in die wir geraten sind. In diese Richtung ist das Wort Erlösung auch angelegt und ich denke, das ist die Spur, die man heute eher verfolgen kann.

DOMRADIO.DE: Erlösung hat ja einen durchaus positiven Klang. Warum bedürfen wir Menschen überhaupt einer Erlösung?

Werbick: Diese positive Assoziation zur Erlösung ist nicht so selbstverständlich, wie man denkt. Erlösung hat biblisch damit zu tun, dass Gott dazwischen kommt, also dass er dazwischenkommt in unser Alltagsleben, in die Alltagsdynamiken.

Bei Johann Baptist Metz gibt es die unglaublich treffende Bemerkung: Religion heißt Unterbrechung. Gott will uns unterbrechen, natürlich wesentlich auch in dem Sinne, dass er uns unterbricht in dem, was wir an Unheil tun und anrichten und weiter treiben. Das ist schon klar.

Aber zunächst einmal ist unterbrochen werden nicht nur eine positive Assoziation, sondern wir werden in dem, was wir selbst vielleicht tun wollen, in dem, was wir selbst tun, unterbrochen. Das ist etwas Befreiendes. Dass Unterbrechung etwas Befreiendes hat, das ist menschlich ja durchaus nachvollziehbar, aber auch ambivalent.

Wenn Sie mich unterbrechen, kann das natürlich eine wirklich hilfreiche Weiterführung sein. Aber zunächst einmal muss ich mich damit auseinandersetzen. Also in dem Sinn heißt Erlösung Unterbrechung. Das ist schon richtig, ob nun positiv oder negativ, vielleicht ambivalent.

DOMRADIO.DE: Vielleicht ist es auch eine Frage der Sichtweise. Wenn ich unterbrochen werde, empfinde ich das vielleicht erst einmal als negativ, aber in Wirklichkeit ist es doch positiv, weil es mir hilft.

Prof. Dr. Jürgen Werbick

"Ich werde unterbrochen, weil Gott selbst eine neue Perspektive, ein neue Hoffnungsperspektive einspielt"

Werbick: Weil es vielleicht eine neue Perspektive einspielt. Das scheint mir für den Lösungsweg jetzt ganz wichtig zu sein. Ich werde unterbrochen, weil Gott selbst eine neue Perspektive, ein neue Hoffnungsperspektive einspielt. Von daher könnte man Erlösung heute so verstehen, dass Gott für uns eine andere, nämlich seine Perspektive einspielt. Das kann sehr hinderlich sein, das kann sehr zwiespältig sein. Aber es ist auch das Befreiende.

DOMRADIO.DE: Im Alten Testament greift Gott sehr viel ein und unterbricht sehr viel. Im Neuen Testament unterbricht er vor allem durch Jesus Christus selbst. Warum sehen wir in seinem Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung ein Werk der Erlösung?

Werbick: Das ist neutestamentlich sehr unterschiedlich ausgelegt worden. Zunächst einmal sieht das Neue Testament am Kreuz gewissermaßen den Bann sich auswirken. So sagen die Hohenpriester nach dem Johannesevangelium, dass es besser ist, wenn einer für das Volk stirbt, als wenn das Volk stirbt.

Warum diese böse Dynamik, dass einer für das Volk sterben muss? Warum gibt es dieses Opfer für das Volk – so stellt es der Hohepriester ja selbst dar –, damit nichts Schlimmes passiert? Also es passiert eine Dynamik, die irgendwie zum Unheil treibt. Die Erfahrung haben wir ja heute ganz stark, dass es solche Dynamiken gibt, von denen wir fortgerissen werden und die zum Unheil führen.

Aber was hat jetzt das Kreuz Jesu Christi damit zu tun? Für die neutestamentlichen Zeugen wird am Kreuz Jesu Christi sichtbar, dass Gott die Unheilsdynamik auf sich nimmt und in sich hineinnimmt, dass er sich selbst einbringt, dass er diesen Gekreuzigten rettet, dass er den Menschen – wie ich es einmal von einem evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts, Blumhardt, gelesen habe –, am Kreuz den Eid leistet, dass er mit ihnen noch Gutes vorhat. Er lässt sie nicht allein. Ist das nicht eine Hoffnungsperspektive?

Am Kreuz wird dann eine Hoffnung sichtbar. Er lässt uns nicht allein in diesem Bann oder in dieser Ausweglosigkeit. Das ist die Hoffnungsperspektive. Aber was hilft uns die dann in der konkreten Situation, in dem Ausgeliefertsein an solches Unheil? Das ist die Frage, die man sich in jeder und so auch in dieser Karwoche neu stellt.

DOMRADIO.DE: Sind wir denn wirklich dadurch erlöst? Und woran könnte man das merken, dass wir Christen durch die Ereignisse des Karfreitags und von Ostern erlöst sind?

Prof. Dr. Jürgen Werbick

"Man könnte sagen, erlösend ist, dass da eine Hoffnung hineinkommt, eine Hoffnung, mit Gott einen Aufbruch, eine Auferstehung wagen zu können und mit ihm in eine gute Zukunft für mich selbst, aber auch für uns alle hineingehen zu können"

Werbick: Erlöst in dem Sinn, dass die Dinge einfach wieder gut sind, dass sie einen guten Ausgang genommen haben, ja offenkundig nicht. Das erleben wir ja. Da unterscheiden die Zeugen des Neuen Testaments ja durchaus auch zwischen dem, was einmal durch Kreuz und Auferstehung geschehen ist und dem, was noch kommen wird – also eschatologisch, so der theologische Fachbegriff.

Es ist also nicht alles wieder gut. Man könnte sagen, erlösend ist, dass da eine Hoffnung hineinkommt, eine Hoffnung, mit Gott einen Aufbruch, eine Auferstehung wagen zu können und mit ihm in eine gute Zukunft für mich selbst, aber auch für uns alle hineingehen zu können.

Erlösend ist, wenn man so will, eine Hoffnung, die sich an Jesus Christus festmacht. Es heißt ja im Johannesevangelium, dass er der Weg ist. Der Weg führt in eine gute Gotteszukunft hinein. Das ist die Hoffnung, die Christen haben. Und diesen Weg zu gehen, das ist das eigentlich Verlässliche, Erlösende.

Das ist das, was zum Vater führt, heißt es im Johannesevangelium in den Abschiedsreden Jesu. In diese Richtung denkt das Johannesevangelium, und diese Vorstellung ist ja im Christentum sehr repräsentativ geworden.

DOMRADIO.DE: Ist Erlösung dann etwas, das sich noch im Werden befindet?

Prof. Dr. Jürgen Werbick

"Es ist also nicht so, dass Gott uns die Arbeit abnimmt. Er ist nicht der Ersatzmann, den wir einwechseln können, wenn wir mit dem Spiel nicht zurechtkommen, wenn wir zu verlieren drohen"

Werbick: Was zunächst geschehen ist, das ist die Öffnung eines Horizonts, eines Gotteshorizonts. Das ist geschehen. Das verbinden wir mit Jesus Christus, auch mit seinem Kreuz und mit seiner Auferstehung. Das ist geschehen. In diesen Horizont hinein zu leben, das ist das, wozu wir berufen sind.

Es ist also nicht so, dass Gott uns die Arbeit abnimmt. Er ist nicht der Ersatzmann, den wir einwechseln können, wenn wir mit dem Spiel nicht zurechtkommen, wenn wir zu verlieren drohen. Das ist nicht der Erlösungsgedanke, sondern: Gott ist der Horizontöffner. Das Neue Testament spricht an unterschiedlichen Stellen von Jesus Christus als dem Wegöffner. Das ist eine ganz interessante Metapher. Er ist der, der den Weg zum Vater geht und uns diesen Weg öffnet.

Nun kann man natürlich fragen, ob er ihn uns wirklich geöffnet hat. Man schaue auf die Kirche. Hat sie dieses Spiel versemmelt? Wie wenig geht sie diesen Weg? Das kann man immer fragen, muss man leider Gottes fragen. Aber das zeigt einfach nur: Er ist keine Garantie, sondern er ist der Horizontöffner.

DOMRADIO.DE: Sie haben ja schon die aktuellen Entwicklungen und Ereignisse angesprochen. Es gibt sehr viel, was darauf hinweist, dass wir diese Horizontöffnung verspielen. Wenn es dann an uns liegt, ist dann das Erlösungswerk etwas, was wir am Ende dann doch selbst vollziehen müssen oder kann das nur durch Gott selbst geschehen?

Werbick: Zunächst einmal schafft Gott die Möglichkeit, diesen Hoffnungshorizont, für den er sich verbürgt. Der Christenglaube ist mit der Hoffnung darauf verbunden, dass wir auf einen guten Ausgang hoffen dürfen, dass er uns nicht verloren gibt. Die Hoffnung ist da, über das hinaus, was wir selbst vermögen.

Das heißt jetzt nicht, dass wir uns dann zurücklehnen könnten und sagen: Ja, er wird es schon machen. Der Religionsphilosoph Holm Tetens hat einmal gesagt: Das ist kein Glaube, wenn man das, was man als die gute Perspektive eingesehen hat, auf sich beruhen lässt und sich zurücklehnt.

Man glaubt sie nur, wenn man sich ihr stellt und wenn man da hineinlebt. Sonst ist das kein Glaube, sondern Faulheit oder Nachlässigkeit. Gott schafft Möglichkeit, heißt es bei Sören Kierkegaard. Gott steht für die Möglichkeit, so Kierkegaard. Alles ist bei ihm möglich. Aber wir sind gerufen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen und tun das in der Hoffnung, dass er uns letztlich in unserer Hoffnung nicht verloren gibt.

DOMRADIO.DE: Schauen wir einmal ganz konkret auf auf den Krieg, der da in der Ukraine tobt. Reichen da Friedensgebete oder muss man tatsächlich - im Endeffekt sogar militärisch - eingreifen?

Werbick: Friedensgebete sind vielleicht Manifestationen der Hoffnung, der Betroffenheit und dass wir uns in unserer Betroffenheit Gott zeigen. Was sich von Gott aus ändert, das wissen wir nicht. Aber wir sollten nicht die Vorstellung haben, dass Gott unser Ersatzmann ist, wenn wir nicht mehr weiterkommen.

Wir sollten nicht die Vorstellung haben, dass er entweder eingreift oder nicht eingreift. Und dann ist das Problem: Warum tut er das nicht? Er ist nicht der, der die Dinge regelt, sondern er ist der, an dem wir uns festmachen, damit wir selbst aus der Hoffnung, die er uns schenkt, Realität machen, so gut wir können.

Diese Unterscheidung ist im Glauben ganz, ganz schwer zu ertragen und auch zu machen. Aber die Erfahrung, die wir mit diesem Gott machen, ist einfach so: Er ist nicht einfach derjenige, der unser Ding macht, sondern er ist derjenige, der uns Möglichkeit schenkt, den Horizont öffnet. Mehr kann man in dem Zusammenhang im Blick auf das Kreuz Jesu Christi dann eher nicht sagen. Sonst würde man die Hoffnung verbreiten, Gott beendet für uns den Krieg. Das tut er nicht.

DOMRADIO.DE: Was wünschen Sie sich vom diesjährigen Osterfest?

Prof. Dr. Jürgen Werbick

"Das ist eine ungewohnte Osterperspektive. Aber die scheint mir gerade in diesem Jahr sehr naheliegend zu sein. Gottes Protest. Er unterbricht uns. Er infiziert uns gewissermaßen mit dem Protest gegen das, was da geschieht"

Werbick: Ich wünsche mir schon, dass es in dem Maße, in dem es jede und jeder für sich wahrnehmen kann, Quelle der Hoffnung ist, dass wir nicht alleingelassen sind mit der Malaise, in der wir uns ja vielfach vorfinden. Aber auch Quelle des Protestes dagegen.

Es gibt diesen wunderschönen Text von Kurt Marti über Auferstehung, den Protest Gottes gegen den Tod, gegen das, was diejenigen anrichten, die gewissermaßen Bundesgenossen des Todes sind. Und wir sehen das ja sehr deutlich, dass es die Bundesgenossen des Todes gibt.

Das ist eine ungewohnte Osterperspektive. Aber die scheint mir gerade in diesem Jahr sehr naheliegend zu sein. Gottes Protest. Er unterbricht uns. Er infiziert uns gewissermaßen mit dem Protest gegen das, was da geschieht. Was dieser Protest bewirkt, was aus dem Protest wird, können wir nicht wissen. Aber wir können uns auch nicht dem fügen, was geschieht.

Wenn das an Ostern spürbar und erfahrbar wird, dann ist das vielleicht genau das, was 2022 dran ist.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens. 

Jürgen Werbick

Bis zu seiner Emeritierung 2011 war Jürgen Werbick Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Der gebürtige Aschaffenburger studierte Theologie in Mainz, München und Zürich.

Nach seiner Promotion bei Heinrich Fries wirkte Werbick zwei Jahre als Pastoralassistent in einer Münchener Gemeinde. Anschließend war er als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Münchener Universität bei Erich Feifel tätig, wo er sich 1981 habilitierte.

Prof. Dr. Jürgen Werbick (KNA)
Prof. Dr. Jürgen Werbick / ( KNA )

 

Quelle:
DR
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