DOMRADIO.DE: Wie beurteilen Sie die neuen Regeln zum assistierten Suizid in Frankreich, die bald zu einem Gesetz werden könnten?
Prof. Dr. Franz-Josef Bormann (Professor für Moraltheologie an der Universität Tübingen): Man muss zwei Aspekte an diesem französischen Gesetzesprojekt unterscheiden: Der eine Aspekt ist, dass in Frankreich der Zugang zu Suizidassistenz künftig an das Bestehen einer unheilbar tödlichen Erkrankung des Betroffenen gebunden sein soll. Das ist eine Begrenzung, die für die Praxis sehr wichtig ist. Sie stellt die restriktive Komponente des Gesetzesvorhabens dar.
Der andere Aspekt besteht darin, dass künftig auch eine Fremdtötung für all jene vorgesehen ist, die aus bestimmten Gründen nicht mehr dazu in der Lage sind, den Schritt des Suizids eigenständig zu vollziehen. Diese Möglichkeit einer Tötung auf Verlangen steht als liberalisierendes Element in diesem Gesetzespaket dem ersten Element der Restriktion in einer gewissen Spannung gegenüber.
Das bedeutet, dass sich Frankreich nun auf einen restriktiveren Pfad bei der Sterbehilfe begibt als etwa die Nachbarländer der Benelux-Staaten, wo die Tötung auf Verlangen in einem viel größeren Umfang legalisiert worden ist. Außerdem gibt es durch das französische Gesetzesvorhaben rechtspolitisch einen immer größer werdenden Druck hin zu einer weiteren Liberalisierung des Sterbehilferechtes.
DOMRADIO.DE: Oft wird kritisiert, dass durch Gesetze zur Sterbehilfe – wie nun in Frankreich – der Druck auf tödlich Erkrankte steigt, Suizidassistenz in Anspruch zu nehmen. Teilen Sie diese Meinung?
Bormann: Diese sogenannten liberalen Sterbehilfe-Regelungen werden politisch vor allem mit dem Argument beworben, dass es einen Freiheitsgewinn für die Bürgerinnen und Bürger gibt. Das stimmt auch insofern, als dass eine bislang strafbewehrte Handlungsweise dadurch zugänglich gemacht wird. Aber statistische Entwicklungen zeigen, dass entsprechende Gesetze zu einer kontinuierlichen Steigerung der Fallzahlen von assistiertem Suizid in den jeweiligen Ländern führen.
Oftmals führen die prekären Lebensumstände der Betroffenen, ausgelöst etwa durch Vereinsamung oder Altersarmut zu einem größeren sozialen Druck, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Da müssen wir sehr wachsam sein. Aber das muss natürlich mit Blick auf die unterschiedlichen Länder differenziert gesehen werden. Denn Frankreich versucht jetzt nicht nur die Suizidassistenz zu legalisieren, sondern es wurde gleichzeitig ein Gesetzesvorhaben zur Verbesserung der Palliativversorgung beschlossen.
Das muss man berücksichtigen und es zeigt, dass man sich in Frankreich der besonderen Gefahr bewusst zu sein scheint, die durch Gesetze zur Sterbehilfe virulent wird. Dieses zweite Gesetz scheint als eine Art Schutz davor gedacht, dass sozusagen der Mangel an palliativer Versorgung die Menschen in den Suizid treibt. Insgesamt sind die angedachten neuen Regeln zur Sterbehilfe in Frankreich jedoch kritisch zu beurteilen.
DOMRADIO.DE: Spielen Sie damit auf die schon erwähnte Ermöglichung einer Tötung auf Verlangen an?
Bormann: Ja, unter anderem. Dabei handelt es sich um eine Art "Salami-Taktik". Natürlich geschieht die Veränderung des Rechts immer in kleinen Schritten. Dass nun in Frankreich erstmalig die Tötung auf Verlangen legalisiert werden soll, ist jedoch eine markante Veränderung und zeigt an, in welche Richtung die politischen Kräfte, die dahinterstehen, eigentlich drängen wollen. Das gilt auch für viele andere Länder. Durch viele kleine einzelne Handlungen kommen wir in eine Situation, die sich sehr stark von dem unterscheidet, was wir bisher für rechtsgeboten gehalten haben.
DOMRADIO.DE: Hinter einem solchen Gesetzesvorhaben zur Sterbehilfe, wie jetzt in Frankreich, stehen oftmals auch viele tragische Leidensgeschichten von tödlich Erkrankten, die ihr Leben und dessen Ende als nicht selbstbestimmt erlebt haben. Verfolgen liberalere Gesetze zur Suizidassistenz – in einem gewissen Rahmen – also vielleicht nicht auch ein gerechtfertigtes Ziel?
Bormann: Zunächst muss man berücksichtigen, dass gesetzliche Normen in der Regel nicht für Extremfälle entwickelt werden: Rechtsnormen werden genauso wie moralische Normen für gewisse Standardsituation aufgestellt. Eine Argumentation, die Extrembeispiele anführt, wird dem rechtsethischen Anliegen einer solchen Normbildung nicht gerecht. Mit Blick auf jede Norm gibt es natürlich Ausnahmen und extreme Umstände.
Die Leitfrage muss aber sein: Wo wollen wir hin? Zudem ist es selten so, dass Extremfälle einfach unvermeidlich sind, sondern durch eine verantwortungsvollere Handlungsweise kann man oft verhindern, dass sie entstehen. Aber auch eine solche Neuregelung der Sterbehilfe wie jetzt in Frankreich, die verglichen mit Deutschland gar nicht einmal so liberal wirkt, hat natürlich einige Probleme. Etwa die Frage, ab welchem Punkt die Suizidassistenz oder die Tötung auf Verlangen möglich sein soll.
Dann kommt man nahezu unvermeidlich auf subjektive Parameter, wie das Empfinden der eigenen Lebensqualität oder des persönlichen Leidens. Oder auch die Frage, ob sich die betreffende Person in einem klaren Zustand, im Status der Freiverantwortlichkeit befindet, um diese Entscheidung überhaupt treffen zu können. Das muss durch Einzelbestimmungen überprüft werden.
Die Erfahrungen, die man in den Niederlanden damit gemacht hat, zeigen schließlich, dass die Gefahr sehr groß ist, auch nicht frei gewählte Entscheidungen zum Suizid mit einem sehr liberalen Gesetz zu riskieren.
DOMRADIO.DE: Die kirchliche Position zur Sterbehilfe ist eine sehr klare Ablehnung. Welche Rolle kann sie angesichts der liberalen Gesetze zur Suizidassistenz in vielen Ländern in den dortigen Gesellschaften einnehmen?
Bormann: Die katholische Kirche lehnt mit Vernunftargumenten und nicht mit einer religiösen Begründung Suizidassistenz und Tötung auf Verlangen entschieden ab. Sie begründet ihre Position damit, dass beides nicht mit dem normativen Ideal eines natürlichen Todes vereinbar ist. Wenn man der Überzeugung ist, dass personales Leben aus sich heraus wertvoll ist, kann man nicht vernünftig vertreten, warum eine Person ihre Freiheit dazu nutzen darf, diese Freiheit durch ihren selbst herbeigeführten Tod endgültig auszulöschen.
In der aufklärerischen Tradition wird eine suizidale Handlung als selbstwidersprüchlich qualifiziert. Das gleiche vertritt die Kirche, wenn sie sagt, dass diese Handlungen schwere moralische Ungerechtigkeiten implizieren. Natürlich kann man das auch mit einer religiösen Sprache ausdrücken, etwa dadurch, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist. So oder so folgt aber daraus, dass man darüber nicht willkürlich verfügen darf.
Es ist angesichts der Veränderungen in vielen westlichen Ländern bei diesem Thema umso notwendiger, das kulturelle Gedächtnis aufrechtzuerhalten und daran zu erinnern, dass Suizid oder Sterbehilfe keine normalen Formen der Lebensbeendigung sind, an die sich die Gesellschaft in irgendeiner Weise gewöhnen sollte. Das ist umso wichtiger, weil es viele gesellschaftliche Missstände gibt, die Menschen dahin bringen können, den Suizid als vermeintlichen letzten Ausweg zu sehen.
Diese Probleme könnten auf andere Weise viel humaner gelöst werden. Dadurch würde auch das Problem der Suizidassistenz erheblich reduziert. Wir stehen vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen, die die Politik bisher nur sehr unzureichend angegangen ist.
Wir wissen alle um den Personalmangel in der Pflege, die explodierenden Gesundheitskosten oder die sich fortschreitend ausbreitende Vereinsamung. Wenn man unter diesen Umständen daherkommt und versucht, Suizidassistenz und Tötung aus Verlangen als Freiheitsphänomene zu diskutieren, wirkt das sehr zynisch.
Das Interview führte Roland Müller.