DOMRADIO.DE: Wissen Sie noch, wie und wo Sie selbst vom Tod Frère Rogers erfahren haben?
Frère Matthew (Prior der Gemeinschaft von Taizé): Ich war damals beim Abendgebet in unserer Kirche in Taizé und erinnere mich noch an die Gesänge, die wir gesungen haben. Frère Roger saß wie immer hinter den Brüdern, so haben wir nichts gesehen. Aber die Jugendlichen um ihn herum haben alles mitbekommen, und es gab einen lauten Schrei. Während einige Brüder Frère Roger hinausgetragen haben, wurde ein neuer Gesang angestimmt und das Gebet ging weiter. Zufällig waren an diesem Abend die Seligpreisungen aus der Bergpredigt gelesen worden. Rückblickend ist das sehr schön, weil dieser Text für Frère Roger immer eine große Rolle gespielt hat.
Nach dem Gebet hat Frère François, einer der älteren Brüder, in der Kirche bekanntgegeben, dass Frère Roger tot sei. Die Atmosphäre unter den Jugendlichen blieb sehr friedvoll. Später am Abend hat uns dann ein Gendarm geraten, die Jugendlichen in dieser Situation nicht einfach ins Bett zu schicken, sondern noch einmal die Glocken zum Gebet zu läuten. Das haben wir getan und Frère François hat ein weiteres Mal zu allen gesprochen.
DOMRADIO.DE: Ausgerechnet an einem so friedlichen Ort wie Taizé ereignete sich eine solche Bluttat; ausgerechnet ein so friedliebender Mensch wie Frère Roger fiel ihr zum Opfer. Das wirkt absurd. Ist es in Ihren Augen auch symbolisch?
Frère Matthew: Frère Roger selbst hat es in der "Regel von Taizé" so formuliert: "Damit Christus in mir wachse, muss ich meine
Schwäche und die der Menschen, meiner Brüder, kennen. Für sie werde ich allen alles und gebe um Christi und des Evangeliums willen sogar mein Leben hin." Diese Worte hat er bereits 1953 geschrieben, aber wir hätten nie gedacht, dass sein Leben so zu Ende gehen würde.
Frère Roger hat immer Güte und Liebe ausgestrahlt, doch dann ist dieser Unfall passiert – das scheint irgendwie geheimnisvoll. Manche haben von einem Martyrium gesprochen. Wir selbst gebrauchen in diesem Zusammenhang keine so großen Worte. Ich glaube, wir können nach 20 Jahre einfach mit großer Dankbarkeit auf all das schauen, was Frère Roger uns hinterlassen hat.
DOMRADIO.DE: Sie bezeichnen Frère Rogers gewaltsamen Tod als Unfall?
Frère Matthew: Frère Roger hat immer nach Versöhnung gesucht, er wollte den Menschen keine Schuld geben. Frère Alois hat es damals auf den Punkt gebracht: Die Frau, die Frère Roger erstach, war krank. Wir konnten mit ihr keinen Kontakt aufnehmen, aber wir haben ihre Mutter nach Taizé eingeladen, und Frère Alois hat sie noch einmal in Rumänien besucht. Menschliche Schwäche gibt es überall, und diese junge Frau wusste schlichtweg nicht, was sie tat. Deshalb spreche ich von einem Unfall.
DOMRADIO.DE: Frère Roger wurde erstochen, während in Köln Hunderttausende ihren Glauben beim Weltjugendtag feierten. In der Kölner Kirche Sankt Agnes fanden auch Gebete mit Brüdern aus Taizé statt. Wie sehen Sie diesen seltsamen Zusammenfall der Ereignisse im Rückblick?
Frère Matthew: Er hat in meinen Augen etwas Schönes. Ich weiß, dass Frère Roger eigentlich selbst zum Weltjugendtag nach Köln fahren wollte, sich dann aber zu schwach fühlte und stattdessen Frère Alois geschickt hat. Als die Nachricht vom Tod Frère Rogers kam, waren vier oder fünf unserer Brüder in der Kölner St. Agneskirche und im Bonner Münster beim Abendgebet. Sie haben am Sonntag dann Papst Benedikt getroffen, der sie liebevoll getröstet hat.
Frère Alois wurde noch in derselben Nacht von Freunden im Auto nach Taizé gebracht und war zum Morgengebet wieder in Taizé. Wir Brüder haben uns zusammengesetzt und über alles gesprochen.
Natürlich war die erste Zeit nach dem Tod von Frère Roger für uns Brüder nicht einfach; schließlich hatte ja er den Weg mit den Jugendlichen hier in Taizé geöffnet. Er hat auch die Jugendtreffen außerhalb von Taizé ins Leben gerufen. Von Anfang an haben wir die Weltjugendtage mitgetragen; schließlich fand der allererste Weltjugendtag 1984 mit Frère Roger und Mutter Teresa in Rom statt. Dass er also gerade während des Weltjugendtags in Köln sein Leben hingab, hat Symbolkraft.
DOMRADIO.DE: Inwieweit hat der Tod Ihres Gründers die Gemeinschaft von Taizé damals verändert? Und welche Rolle hat es gespielt, dass dieser Tod kein natürlicher war, sondern ein gewaltsamer – bzw. ein Unfall, wie Sie sagen?
Frère Matthew: Dieser Tod hat für uns als Gemeinschaft natürlich eine Rolle gespielt. Er war ein Zeichen, dass wir als Menschen bereit sein müssen, unser Leben hinzugeben. Es gibt so viele Situationen, in denen Christen heute ihren Glauben mit dem Leben bezahlen. Alles hat seinen Preis; Dietrich Bonhoeffer hat in diesem Zusammenhang von der "teuren Gnade" gesprochen. Für mich stellt uns dieser Tod vor die Frage: Sind wir bereit, für Christus alles hinzugeben?
Sein Tod stellt in meinen Augen auch einen Bezug zu den Anfängen unserer Gemeinschaft her, als Frère Roger während des Zweiten Weltkriegs aus der Schweiz nach Frankreich kam, was damals sehr gefährlich war. Auch heute finden wieder Kriege und Konflikte vor unserer Haustür statt. Frère Rogers Tod ruft uns auch in Erinnerung, dass unser Tod uns nicht selbst gehört.
DOMRADIO.DE: Wirkt Frère Rogers Tod als schwer zu fassendes Ereignis denn bis heute nach?
Frère Matthew: Wir haben heute fast dreißig Brüder unter uns, die Frère Roger selbst nicht mehr kennengelernt haben. Es geht uns darum, keinen Märtyrerkult zu betreiben, sondern unaufgeregt darüber zu sprechen, was damals geschehen ist. Es ist wichtig zu sehen, wie Frère Roger seine Berufung bis zum Ende gelebt hat.
DOMRADIO.DE: Wie begehen Sie Frère Rogers 20. Todestag in Taizé?
Frère Matthew: Wir werden während des Mittagsgebetes ein besonderes Dankgebet für Frère Roger sprechen; abends wird dieses Gebet wiederholt und auch übertragen. Außerdem findet eine Gesprächsrunde zum Thema "Frère Roger – Zeuge der Hoffnung" statt. Daran nehmen neben mir einer unserer Brüder, der Frère Roger nicht mehr gekannt hat, eine der Schwestern von Saint André und eine Frau, die seit Langem bei uns lebt, teil.
DOMRADIO.DE: Wie lebt Frère Rogers Erbe 20 Jahre nach seinem Tod fort?
Frère Matthe: Was bleibt, ist seine Sehnsucht nach Einheit, nach der Einheit der Christen. Diese Leidenschaft für die Einheit macht uns zum Sauerteig der Versöhnung und des Friedens in der Menschheitsfamilie. Allerdings glaube ich, dass die Einheit der Christen für Frère Roger nie Selbstzweck war. Er war vielmehr überzeugt, dass wir Christen die sichtbare Einheit suchen müssen, um dem Frieden in der Welt eine größere Chance zu geben. Die aktuellen Krisen und Kriege erinnern mich stark an die Anfänge von Taizé während des Zweiten Weltkrieges.
Außerdem kommen unsere Gebete und Gesänge von Frère Roger. Am Anfang hielten die Brüder ja ein klösterliches Stundengebet auf Französisch. Aber als dann immer mehr Menschen nach Taizé kamen, wollte er die Gebete allen zugänglich machen. Anfang der 1970er-Jahre haben wir dann mit den sogenannten "Taizé-Gesängen" begonnen. Als ich in 1986 nach Taizé kam, hatte das Gebet der Brüder noch die alte Form, und die Wiederholgesänge wurden erst danach gesungen.
Aber als ich vielleicht zwei, drei Jahre in der Gemeinschaft war, hat Frère Roger mir einmal gesagt: "Wir werden diese Gesänge jetzt als Gebete singen. Ich bin so alt, die Brüder werden nicht nein sagen." Wie so oft in seinem Leben hat er auch hier ein Gespür für den richtigen Moment bewiesen.
Das Interview führte Hilde Regeniter.