Studie sucht Erklärung für Leid der Opfer im Ruhrbistum

"In meinen Alpträumen besucht er mich immer noch"

Kinder und Jugendliche wurden über Jahrzehnte im Ruhrbistum sexuell missbraucht - und die Kleriker-Täter meist nur versetzt, nicht entlassen. Eine Studie fragt nach den Hintergründen, Betroffene fordern Rücktritte und Entschädigung.

Autor/in:
Rolf Schraa
Das Missbrauchsopfer im Bistum Essen, Markus Elstner, enthüllt einen Gedenkstein vor der St. Cyriakus-Kirche in Bottrop. (dpa)
Das Missbrauchsopfer im Bistum Essen, Markus Elstner, enthüllt einen Gedenkstein vor der St. Cyriakus-Kirche in Bottrop. / ( dpa )

Der Bottroper Markus Elsner ist als Messdiener mit 12 oder 13 Jahren zum Missbrauchsopfer seines Kaplans H. geworden. Über ein halbes Jahr hinweg hat ihn der Geistliche in der Bottroper St. Cyriakus-Gemeinde nach Elsners Erinnerung immer wieder zu sich bestellt und sexuell missbraucht. Der Kaplan fiel auf. Er wurde erst nach Essen und nach erneuten Taten 1980 nach Bayern versetzt, um sich einer Therapie zu unterziehen - aber nicht entlassen.

In Bayern ging der Missbrauch weiter. Insgesamt missbrauchte der später strafrechtlich verurteilte H. mindestens 28 Menschen - Kinder und Jugendliche, wie das Bistum später bestätigte. Ein Dienstverbot bekam der Mann aber erst 2010, inzwischen ist er kein Priester mehr, wie das Bistum im vergangenen Jahr mitgeteilt hatte.

Keine juristische Studie

Spektakuläre Fälle wie diesen aus dem Ruhrbistum arbeitet das Münchener Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) in einer Studie auf, die an diesem Dienstag in Essen vorgestellt wird. Es ist keine juristische Studie, die in erster Linie Schuld und Schuldige ermittelt, wie in anderen Bistümern.

Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen (dpa)
Franz-Josef Overbeck, Bischof von Essen / ( dpa )

Bei der Studie geht es laut IPP verstärkt um die Rahmenbedingungen, die die sexualisierte Gewalt durch Kleriker möglich gemacht haben. Es sollen offenbar auch Namen von Verantwortlichen für das Kontrollversagen genannt werden - bis hin zur Bistumsleitung. Dazu gehöre aber auch das Verhalten der Gemeinden selbst, die sich teils vor "ihre" Pfarrer stellten. Zur Studie gehörten auch Diskussionen mit betroffenen Gemeinden.

Das erst 1958 gegründete Ruhrbistum ist flächenmäßig das kleinste in Deutschland und eines der jüngsten. Bischof Franz-Josef Overbeck gilt als eher "linker" Bischof und ausdrücklicher Anhänger des Synodalen Weges zur Erneuerung der katholischen Kirche. Im Ruhrbistum wurden schon 2012 und damit sehr früh alle Personalakten von einer Rechtsanwaltkanzlei auf Missbrauchsverdacht geprüft.

Akten sind oft lückenhaft

Einen aktuellen Überblick über die Missbrauchsfälle im Bistum zu gewinnen, fällt dennoch schwer. Alte Akten sind oft lückenhaft, viele Taten liegen lange zurück, Verdächtige und Opfer sind teils tot, teils kamen Hinweise anonym oder in unklarer Form.

Im Jahr 2020 waren nach Bistumsangaben an der Ruhr 99 Opfer von sexuellem Missbrauch bekannt. 63 Diözesanpriester wurden zu diesem Zeitpunkt beschuldigt. Diese Zahlen sind überholt. Aktuelle Zahlen würden ermittelt, sagte Bistumssprecher Ulrich Lota. Sie dürften jedenfalls höher sein als die 2020 genannten, ist zu vermuten. Jedenfalls sei Missbrauch ein "über Jahrzehnte verbreitetes Phänomen" im gesamten Bistum gewesen, sagt Lota.

Die Debatte um die Missbrauchstaten, das Schweigen und mutmaßlich auch aktive Vertuschen der Amtskirche heizt auch den Streit um angemessene Entschädigungen an. Insgesamt mehr als 40 Millionen Euro hat eine von der katholischen Kirche eingerichtete unabhängige Kommission 2021 und 2022 bundesweit für Missbrauchsopfer bewilligt.

Geringe Summen

In fast zwei Dritteln der Fälle lägen die Summen aber unter 20 000 Euro, kritisiert der Sprecher des Betroffenenbeirates bei der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth. Das sei nicht angemessen, zumal sich bei der aktuell laufenden Schmerzensgeld-Klage eines Ex-Messdieners vor dem Landgericht Köln eine "mindestens sechsstellige" Summe abzeichne.

Markus Elsner

"Es gibt genug Gutachten und Studien, jetzt muss gehandelt werden"

Norpoth - selbst als Kind von einem Ruhrgebietsgeistlichen missbraucht - fordert "moralische Anerkennung" und "tätige Reue", die sich auch in einer entsprechenden Zahlung widerspiegeln müsse. Die Betroffenen dürften nicht in zusätzliche Prozesse vor Zivilgerichten getrieben werden.

Missbrauchsopfer Markus Elsner will am Dienstag bei der Präsentation der Studie in Essen dabei sein, auch wenn er sich davon nicht mehr viel verspricht. "Es gibt genug Gutachten und Studien, jetzt muss gehandelt werden", fordert er. "Echtes Schmerzensgeld, kein Trostpflaster und Rücktritt der Verantwortlichen". Elsner will eine Lautsprecherbox und ein Mikrofon zum Termin mitbringen.

In der Stille, wenn er zu Hause im Bett liegt, geht dem 56-Jährigen der Missbrauchspfarrer H. nicht aus dem Kopf. "In meinen Alpträumen besucht er mich immer noch."

Quelle:
dpa