Soziologin sieht Kirchen nicht in aussichtsloser Lage

"Probleme offen angehen"

Im Religionsmonitor 2023 werden immer häufigere Austrittswünsche beobachtet. Das hängt nicht nur, aber ganz stark mit Skandalen und Vertrauensverlust zusammen. Yasemin El-Menouar hält die Lage dennoch nicht für aussichtslos.

Eine Frau mit Mütze sitzt in einer Kirchenbank / © frantic00 (shutterstock)
Eine Frau mit Mütze sitzt in einer Kirchenbank / © frantic00 ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Die Kirchen verlieren immer mehr an Bindungskraft. Kann man das Ergebnis des aktuellen Religionsmonitors 2023 so zusammenfassen?

Yasemin El-Menouar, Leiterin der Sudie Religionsmonitor / © Bodo Marks (dpa)
Yasemin El-Menouar, Leiterin der Sudie Religionsmonitor / © Bodo Marks ( dpa )

Dr. Yasemin El-Menouar (Leiterin des Religionsmonitors 2023): Ja, das kann man tatsächlich so zusammenfassen. Der Religionsmonitor 2023 beziehungsweise die Vorschau auf das, was im kommenden Jahr noch kommen wird, zeigt, dass die evangelische und die katholische Kirche weiter an Bedeutung verlieren. Jedes vierte Kirchenmitglied hat im letzten Jahr über einen Austritt nachgedacht. Das zeigt, dass der Trend sinkender Mitgliederzahlen in den beiden großen Kirchen anhält.

DOMRADIO.DE: Heißt das, dass unsere Gesellschaft weniger religiös wird? Oder sind viele religiöse Menschen nicht mehr bereit, ihre Religiosität innerhalb einer Kirche als Glaubensgemeinschaft zu leben?

El-Menouar: Wenn man sich den Zehn-Jahres-Vergleich anschaut – die Daten des Religionsmonitore 2013 und 2023 –, dann sehen wir, dass traditionelle religiöse Kernbestände wie Gottesdienstbesuch, der Gottesglaube, ob jemand religiös erzogen worden ist, über die vergangenen zehn Jahre abgenommen haben.

Das heißt aber nicht, dass Religion als solche generell abnimmt, sondern dass sie sich einfach in andere Bereiche verlagert. Wir sehen aber beispielsweise auch, dass Kirchenmitglieder nur noch selten in den Gottesdienst gehen. Insbesondere diejenigen, die austreten möchten, gehen kaum noch in die Kirche. Da kommt dann schnell die Frage auf, ob die Kirchensteuer noch gerechtfertigt ist?

Dr. Yasemin El-Menouar, Leiterin des Religionsmonitors 2023

"Religion verschwindet also nicht, Religion wird aber nicht mehr unbedingt mit der Kirche verbunden."

Auch die Skandale führen zu einem Vertrauensverlust. Gleichzeitig sagen aber auch diejenigen, die austreten möchten, dass man ohne die Kirche Christ sein kann. Religion verschwindet also nicht, Religion wird aber nicht mehr unbedingt mit der Kirche verbunden. Das zeigt auch, dass sich Religion zunehmend in den privaten Bereich verlagert und nicht mehr an die Institution der Kirche gebunden sein muss.

DOMRADIO.DE: Auch in jünerer Vergangenheit hatte die katholische Kirche viele Skandale. Inwieweit spielen diese Skandale eine Rolle für die schwindende Bindungskraft der Kirchen?

Hintergrund: Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung

Die christlichen Kirchen verlieren einer Studie zufolge angesichts anhaltend sinkender Mitgliederzahlen weiter an gesellschaftlicher Bedeutung. Nach dramatischen Austrittszahlen für die evangelische und die katholische Kirche in den letzten Jahren spielen laut der Umfrage viele weitere Menschen mit dem Gedanken, der Institution den Rücken zu kehren. Überproportional von Austrittserwägungen betroffen ist die katholische Kirche, wie der "Religionsmonitor 2023" der Bertelsmann Stiftung ergab. Dafür hatte das Institut Infas 4363 Personen ab 16 Jahren bundesweit repräsentativ befragt.

Holzkreuz auf einer Bibel / © Elena Elisseeva (shutterstock)
Holzkreuz auf einer Bibel / © Elena Elisseeva ( shutterstock )

El-Menouar: Eine ganz, ganz zentrale Rolle. Deshalb äußern Katholikinnen und Katholiken auch häufiger Austrittsabsichten. Sie habe das Vertrauen in religiöse Institutionen verloren. Hier spielen die Skandale und die mangelnde Reformbereitschaft auch eine wichtige Rolle; und natürlich das negative Image, das die katholische Kirche insbesondere auch dadurch entwickelt hat. Das ist ein wichtiger Hintergrund für die Austrittswünsche, die wir beobachten.

DOMRADIO.DE: Gibt es eine Möglichkeit, diesem Trend entgegenzusteuern? Der Religionssoziologe Soziologe Detlef Pollack aus Münster sieht da wenig Spielraum. Wie sehen Sie das?

El-Menouar: Grundsätzlich muss man sehen, dass Religion vielfältiger geworden ist und wir in einer multireligiösen Gesellschaft leben. Die beiden großen Kirchen vertreten nicht mehr die Mehrheit der Gesellschaft, wie sie es einmal getan haben. Heute ist nicht einmal mehr jeder Zweite Mitglied einer der beiden großen Kirchen.

Das heißt aber nicht, dass Religion verschwindet. Wir haben viele andere Religionsgemeinschaften in Deutschland. Auch innerhalb des Christentums sehen wir eine große Pluralisierung. Es gibt die Freikirchen, es gibt viele unterschiedliche orthodoxe Kirchen.

Da müssen die beiden großen Kirchen schauen, welche Rolle sie innerhalb dieser multireligiösen Gesellschaft einnehmen können, in der sie nur noch eine Option unter vielen sind, wie sie für die Menschen attraktiver werden können. Dazu gehört natürlich auch, sich mit dem Vertrauensverlust der Menschen offen auseinanderzusetzen, die Probleme offen in den eigenen Reihen anzugehen und den Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Dr. Yasemin El-Menouar, Leiterin des Religionsmonitors 2023

"Vertrauen zu verlieren ist leicht und geht sehr schnell, es wieder aufzubauen ist schwierig, aber das ist nicht aussichtslos."

Vertrauen zu verlieren ist leicht und geht sehr schnell, es wieder aufzubauen ist schwierig, aber das ist nicht aussichtslos. So sehe ich das nicht.

DOMRADIO.DE: Bisher wurde nur eine Vorschau des Religionsmonitors 2023 veröffentlicht. Was erwartet uns denn im nächsten Jahr? Können Sie da schon einen Ausblick geben?

El-Menouar: Wir haben eine ganze Reihe an Veröffentlichungen zum großen Thema 'Religion und Glaube in Zeiten der Krise' geplant. Da werden wir uns anschauen, welche Rolle Religion bei der Krisenbewältigung spielt, welche Solidaritätspotentiale sie einnimmt.

Wir wollen uns aber auch alternative Glaubensformen angucken und versuchen, das Spektrum der multireligiösen Landschaft zu beschreiben, auch jenseits der klassischen Religionsgemeinschaften. Vom Religionsmonitor wird man im nächsten Jahr noch einiges hören.

Das Interview führte Elena Hong.

Quelle:
DR