Soziologe erklärt Rückgang der Religiosität junger Menschen

Ein Schneeballeffekt?

Nur noch 25 Prozent der jungen Christen in Deutschland sehen ihren Glauben als wichtig an. Bei Muslimen sind es mehr als 50 Prozent. Woher kommen diese Unterschiede und wie kann die Kirche für junge Menschen attraktiv werden?

Jugendliche mit Rosenkranz / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Jugendliche mit Rosenkranz / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Die Jugend war eigentlich nie wirklich die Zielgruppe der Kirchen, oder?

Prof. Dr. Detlef Pollack (Religionssoziologe an der Universität Münster): Die Kirchen haben sich schon um die Jugend bemüht, aber es sind eben doch viele Faktoren, die das Handeln der Kirchen stark beeinträchtigt haben.

Das Wichtigste, was man da nennen muss, ist die Erziehung in den Familien. Immer weniger Jugendliche, immer weniger Kinder werden in den Familien religiös erzogen. Das hat dann zur Konsequenz, dass auch gerade bei den jungen Menschen unter 30 die Zahl der Christen so stark rückläufig ist.

DOMRADIO.DE: Also ist es eher ein allgemeiner Trend, weil es bei den Eltern schon anfing und es ist weniger die aktuelle Krise?

Pollack: Ich würde sagen, das ist ein langfristiger Trend, den wir seit Jahrzehnten beobachten können. Die Krise gibt noch eins obendrauf. Dann hat man auch gute Gründe, aus der Kirche auszutreten und die Kirche kritisch zu sehen.

Prof. Dr. Detlef Pollack (privat)
Prof. Dr. Detlef Pollack / ( privat )

DOMRADIO.DE: Interessanterweise ist das bei jungen Muslimen in Deutschland umgekehrt. Da bezeichnet sich die knappe Mehrhei als muslimisch, als religiös. Wo kommt der Unterschied her?

Pollack: Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Zugewanderten in Deutschland sich als eine Minderheit verstehen, die gewissermaßen zur Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft aufgefordert werden. Das erwartet man von ihnen, das empfinden sie selbst auch so und die meisten wollen sich auch integrieren, nicht alle, aber die meisten schon.

Daraus resultiert dann auch die Frage: Wer bin ich eigentlich in dieser Mehrheitsgesellschaft? Viele beantworten diese Frage durch Rückgriff auf die Religion, auf ihre islamische Identität und sagen dann: Ich verstehe mich als Muslim und das heißt, ich bin anders als ihr, aber ich will trotzdem dazugehören.

DOMRADIO.DE: Also hat das mehr mit kultureller Identifikation als mit Spiritualität zu tun?

Pollack: Das könnte man sogar so sagen, ganz genau. Das kann man auch empirisch feststellen. Die Angehörigen der zweiten und dritten Zuwanderungsgeneration sagen zu einem höheren Prozentsatz, dass sie sich als religiös verstehen, dass sie Muslime sind, als Generation, die also schon länger bei uns sind. Zugleich sind es aber die Jüngeren, die Angehörigen der zweiten und dritten Zuwanderergeneration, die weniger in die Moscheen gehen, weniger häufig beten, sodass man fragen kann: Was hat die Behauptung "Ich bin Muslim" mit ihrer religiösen Praxis zu tun? Viele werden den Zusammenhang herstellen können. Aber bei manchen muss man schon sagen, dass diese religiöse Identifikation auch eine Form der kulturellen Selbstbehauptung ist.

DOMRADIO.DE: Wenn wir diesen Rückgang bei den Christen mal zu Ende denken: Die Gottesdienstbesucher sind auch schon in einem gewissen Alter. Das ist ja eine Gruppe, die in zehn, 20, 30 Jahren nicht mehr da sein wird. Und wenn da jetzt nichts von unten nachkommt, beschleunigt das den Bedeutungsverlust der Kirche nicht immens?

Pollack: Unbedingt, ja. Man muss ja auch sehen, dass bei den Jüngeren die Gefühle der Verbundenheit mit der Kirche geringer sind als bei den Älteren. Das trägt also auch zu dieser Beschleunigung bei. Und ein ganz wichtiger Faktor: Je weniger Christen es gibt, desto weniger fühlt man sich durch seine Umgebung, durch die Menschen in der eigenen Nachbarschaft, in der Familie, in seinem Glauben gestärkt. Das hat natürlich auch eine Konsequenz dafür, ob man den Glauben und die Zugehörigkeit zur Kirche aufrechterhält oder nicht.

Prof. Dr. Detlef Pollack

"Je weniger Christen es gibt, desto weniger fühlt man sich durch seine Umgebung, durch die Menschen in der eigenen Nachbarschaft, in der Familie, in seinem Glauben gestärkt"

DOMRADIO.DE: Das ist also zahlenmäßig ein richtiger Schneeballeffekt?

Pollack: Das könnte man sagen. Man kann das bestimmt nicht einfach linear fortschreiben, was man jetzt an rückläufigen Tendenzen sieht, sondern man muss, das würde ich soziologisch sagen, mit einer Beschleunigung rechnen.

DOMRADIO.DE: Kann man dem entgegenwirken? Die klassische Jugendarbeit scheint ja in der Generation auch nicht anzukommen.

Pollack: Die Kirchen machen ja schon ganz viel. Die sind viel offener für die Menschen, dialogischer. Sie versuchen, die Bedürfnisse der Menschen ernst zu nehmen. Das hilft aber eben alles nicht oder nur ganz, ganz wenig. Vielleicht wäre es noch schlimmer, wenn die Kirchen da nicht gegensteuern würden.

Ich würde vor allen Dingen an zwei Stellen ganz wichtige Handlungsmöglichkeiten der Kirche sehen. Einmal muss man ganz früh ansetzen, eigentlich im Kindheitsalter. Da werden im Grunde die religiösen Orientierungen geprägt und das wirkt sich bis ins Alter aus. Auch als Erwachsener gibt es eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass man sich religiös gebunden fühlt, wenn man schon als Kind religiös erzogen wurde, als wenn das nicht der Fall wäre.

Ein anderer Punkt ist in meinen Augen auch noch wichtig: Ich glaube, dass die Kirchen nur begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten haben auf die Menschen, aber sie müssen da sein. Im Falle der Krise oder im Falle des Bedarfs ist es wichtig, dass sie als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Und viele Menschen wollen in solchen Situationen der Krise oder des Umbruchs und auch der biografischen Desorientierung begleitet werden. Und dann ist es wichtig, dass die Kirchen zur Seite stehen und in der Lage sind ihre Dienste anzubieten.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Quelle:
DR
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