Sozialphilosoph Emunds beklagt kapitalistische Marktwirtschaft

"Wachsende Ohnmacht der Arbeitnehmer"

Der Sozialphilosoph Bernhard Emunds fordert die Politik zu grundlegenden Korrekturen an der "kapitalistischen Marktwirtschaft" auf. In seinem Gastbeitrag nennt der Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts in Frankfurt-Sankt-Georgen eine Erneuerung des "Leitbilds Soziale Marktwirtschaft" notwendig. Sie könne aus christlich-sozialethischer Sicht aber nur gelingen, wenn Fehlentwicklungen korrigiert würden.

 (DR)

Emunds äußert sich nach der Einsetzung einer Bundestags-Enquetekommission zu Grundfragen von Wachstum und Wohlstand in der Sozialen Marktwirtschaft. Das Gremium soll ein zeitgemäßes Leitbild für das Wirtschaften erarbeiten:



Aus christlich-sozialethischer Sicht massive Schwächen

Das bei der Einsetzung der neuen Enquete-Kommission abermals bemühte Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft könnte sich in den Beratungen als Leerformel erweisen. Vor allem das ursprüngliche ordoliberale Konzept von Sozialer Marktwirtschaft ist blanke Ideologie. Es behauptet schlichtweg, dass jede Marktwirtschaft sozial sei, weil sie allen hervorragende Möglichkeiten biete, sich Wohlstand zu erarbeiten. Aber auch die Soziale Marktwirtschaft in ihrem populären Verständnis, bei der es um die sozialstaatliche Korrektur der kapitalistischen Marktwirtschaft geht, und die mit dem gleichen Begriff benannte reale Wirtschaftsordnung haben aus christlich-sozialethischer Sicht massive Schwächen. Diese müssen behoben werden, wenn man das Leitbild zukunftsfähig machen will.



Pater von Nell-Breuning und andere katholische Sozialethiker der 1950er Jahre werden heute zu den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft gezählt. Damals jedoch kritisierten sie die westdeutsche Wirtschaftsordnung als sozial temperierten Kapitalismus. Sozialpolitik werde weithin auf Sozialleistungen beschränkt, mit denen man nachträglich die schlimmsten individuellen Notlagen zu korrigieren suche. Von einer Sozialen Marktwirtschaft könne aber erst die Rede sein, wenn die Wirtschaft sozial gesteuert werde. Dazu müsse die Wirtschaft so gelenkt werden, dass alle nicht nur einen fairen Anteil an den produzierten Gütern erhalten, sondern auch in der Lage sind, sich in der Teilnahme an der Wertschöpfung selbst zu verwirklichen und gleichberechtigt an wirtschaftlichen Entscheidungen zu beteiligen.



Blinder Fleck der Sozialen Marktwirtschaft

Mit dieser Kritik machten die katholischen Sozialethiker in der Anfangszeit der Republik auf einen blinden Fleck der Sozialen Marktwirtschaft aufmerksam: auf die Machtasymmetrie zwischen Unternehmern beziehungsweise Kapitalgebern und Arbeitnehmern, die eng mit der höchst ungleichen Verteilung des Vermögens, insbesondere des Besitzes an Produktionsmitteln verbunden ist. Mit der Ausbreitung des Finanzmarktkapitalismus hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten die Schieflage zwischen der Macht der Kapitalgeber und der Ohnmacht jener Arbeitnehmer, die nicht zu den Hochqualifizierten gehören, noch weiter verschärft.



Die globale Finanzkrise wurde entgegen dem ersten Anschein zum Offenbarungseid der Politik: Große Finanzkonzerne zwingen die Regierungen zu teuren Rettungsaktionen. Zugleich kommt die Neuordnung des Krisenherdes, die ohne Abstriche bei den Gewinnerwartungen dieser Konzerne nicht gelingen kann, nicht voran. Noch deutlicher kann die Mutlosigkeit der Politik, welche die Marktwirtschaft nicht mehr mit sozialen Zielsetzungen zu lenken versucht, kaum werden!



Soziales Problem der prekären Beschäftigung

In Reaktion auf eine über Jahrzehnte immer weiter angestiegene Massenarbeitslosigkeit haben sich die Bundesregierungen immer wieder der trügerischen Hoffnung hingegeben, die Privatwirtschaft werde sehr viele neue Arbeitsplätze schaffen, wenn man nur die Arbeitskosten senkt. So ist - durch "Reformen" beschleunigt - in den letzten zehn Jahren das große soziale Problem der prekären Beschäftigung entstanden. Von Armut sind heute in Deutschland mehr Haushalte betroffen, in denen zumindest eine Person erwerbstätig ist, als Haushalte, in denen keiner eine Arbeitsstelle hat.



Zum Kernbestand des Leitbilds "Soziale Markwirtschaft", gehört es, dass alle Bürgerinnen und Bürger über die (mögliche) Teilhabe an der Erwerbsarbeit in die Gesellschaft integriert werden.

Hochproblematisch ist aus christlich-sozialethischer Sicht, dass bei den politischen Bemühungen, Arbeitsplätze zu vermehren, die Qualität dieser Arbeitsplätze völlig aus dem Blick geraten ist.



Entwicklung der EU zu einer "Transferunion"

Rückgrat der Sozialen Marktwirtschaft war über Jahrzehnte die Exportstärke der deutschen Industrie. Die aktuelle Krise des Euro ist ein deutliches Indiz dafür, dass in Europa, das wirtschaftlich eng zusammengewachsen ist, kein Land mehr seine Wirtschaftspolitik bestimmen kann, ohne auch die Interessen der anderen Europäer zu berücksichtigen. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft kann nur zukunftsfähig werden, wenn es auf die ganze wirtschaftliche Großregion ausgedehnt wird. Das schließt die Entwicklung der EU zu einer "Transferunion" ein.



Ähnlich wie die Kapitalismus-Varianten anderer Industrieländer so ist auch für die Soziale Marktwirtschaft eine individuell-materialistische Blickverengung der gesellschaftlichen Entwicklung kennzeichnend: Lebensqualität und Wohlstand werden weithin mit der privaten Verfügung über möglichst viele und möglichst qualitativ hochwertige Konsumgüter gleichgesetzt. Die Bedeutung der öffentlichen Bereitstellung von Gütern wurde und wird immer mehr ausgeblendet. Privatisierungswellen und Spardiktate der öffentlichen Hand, vor allem für die Kommunen, haben in den vergangenen 20 Jahren den Umfang jener Güter massiv reduziert, zu denen alle Bürgerinnen und Bürger unentgeltlich oder gegen eine nur geringe Gebühr Zugang haben. Aus christlich-sozialethischer Sicht kann eine Erneuerung des Leitbilds Soziale Marktwirtschaft nur gelingen, wenn diese Entwicklung korrigiert wird.



Vor allem der Klimawandel verweist darauf, dass ein Wirtschaftswachstum, das als Ausdehnung der Produktion von Konsumwaren konzipiert ist, in den Industrieländern ethisch nicht mehr vertretbar ist. Dagegen stehen das Recht unserer Nachkommen auf vergleichbare natürliche Lebensvoraussetzungen und die legitimen Ansprüche der Menschen in den Entwicklungsländern auf wirtschaftliche Entwicklung.



Hinweis: Der Autor Bernhard Emunds (48) lehrt als Professor für Christliche Gesellschaftsethik und Sozialphilosophie an der Jesuiten-Hochschule Sankt Georgen. Seit 2006 leitet er das Oswald von Nell-Breuning-Institut, das an den Nestor der Katholischen Soziallehre, den Jesuiten Oswald von Nell-Breuning (1890-1991) erinnert.