"Das bisherige Rentensystem steht vor dem Ende, darin sind sich alle Experten einig. Das bundesdeutsche System stammt in den Grundzügen aus dem Jahr 1889, als auf Veranlassung des damaligen Reichskanzlers Otto von Bismarck im Kontext der Bekämpfung der SPD und zur Bekämpfung sozialer Unruhen eine "Invaliditäts- und Altersversicherung" für die Arbeiterschaft im Reich eingeführt wurde.
Lohnarbeiter ab 16 Jahren und Angestellte bis 2000 Reichsmark Jahresgehalt waren damit bei Invalidität und im Alter wenigstens minimal abgesichert. 1911 kam es zur Einführung einer eigenen Angestelltenversicherung und einer Hinterbliebenenrente für Witwen und Waisen. 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, und ebenso sowie 1889 zur Verhinderung sozialistischer Unruhen, wurde der Rentenanspruch ausgeweitet für alle abhängig Beschäftigten ab 65 Jahren; Beamte und Selbständige waren weiterhin nicht einbezogen.
Erst 1957, damals nicht ungeschickt von Konrad Adenauer und der CDU/CSU im Angesicht der bald stattfindenden Bundestagswahl (die auch tatsächlich von der CDU/CSU glanzvoll mit absoluter Mehrheit gewonnen wurde) arrangiert, wurde das Rentensystem grundlegend umgestellt von einer Kapitaldeckung hin zum bis heute gültigen umlagefinanzierten Modell des Generationenvertrags.
Adenauers Irrtum und ein veränderter Arbeitsmarkt
Die dahinter stehende Idee, nämlich die Finanzierung der aktuellen Renten durch die aktuellen Erwerbstätigen, ist an sich genial und nach dem Willen der damals verantwortlichen, durch die christliche Soziallehre geprägten Politiker, auch dem Gedanken der Solidarität der Generationen verpflichtet, setzt aber stabile demographische Verhältnisse und ein finanztechnisch solides Reproduktionsverhalten der Bevölkerung voraus, das Konrad Adenauer bekanntlich legendär mit dem Satz beschwor: "Kinder bekommen die Leute immer!"
Das war bekanntlich ein Irrtum, aber es hat sich inzwischen noch mehr geändert: Klassische abhängig Beschäftigte gibt es immer weniger, Selbständige und Scheinselbständige nehmen zu, ebenso Teilzeitbeschäftigte und geringfügig Beschäftigte, dazu kommen gemischte Arbeitstätigkeiten in der Grauzone von privater und ehrenamtlicher Tätigkeit. Care-Tätigkeiten im häuslichen Bereich sind oft nur schwer finanztechnisch zu erfassen, von familiärer Arbeit ganz zu schweigen, weswegen natürlich die Mütterrente, von der CSU heftig propagiert, sozialethisch sehr sinnvoll ist, aber zusätzlichen Sprengstoff in das antiquierte Rentensystem bringt.
Auch die Angleichung der Renten im Osten an die im Westen steht weiterhin auf der Agenda. Die Fakten liegen also mehr oder minder auf dem Tisch:
Immer weniger "klassische" und alt gewohnte Beschäftigungsverhältnisse sollen für immer mehr Rentenberechtigte sorgen, die immer älter werden und statt 10-15 Jahren (wie 1957) sehr oft 20-25 Jahre Rente beziehen wollen. Daher wird schon seit vielen Jahren die Umlagefinanzierung, die nicht mehr ausreicht für ein stabiles Rentenniveau, ergänzt durch einen Jahr um Jahr ansteigenden Bundeszuschuß, zuletzt von 130 Milliarden Euro jährlich, weswegen das Rentensystem solidarischer Generationenumlage von 1957 mehr und mehr nur noch auf dem Papier existiert und längst zusätzlich steuerfinanziert ist (was natürlich das nicht höhnisch gemeinte, aber dennoch etwas despektierliche Lachen der Arbeitgeber im Angesicht von Bärbel Bas vor einigen Tagen erklärt): Zahlen muß am Ende ohnehin der Steuerzahler um ein ans Ende gekommenes Rentensystem zu retten. Wie könnte und sollte ein gerechtes Rentenmodell aussehen aus Sicht der katholischen Soziallehre?
Was ethisch geboten ist
Zunächst muss die Stabilisierung des Niveaus der Rente das Ziel sein, was nach der Abstimmung im Bundestag letzte Woche mit der berühmt-berüchtigten "Haltelinie" bei 48 Prozent durch die weitere Steigerung des steuerfinanzierten Bundeszuschusses bereits erreicht ist.
Das entbindet aber nicht von einer grundlegenden Reform des Systems. Erforderlich ist sozialethisch auch eine Gleichstellung der Kindererziehung und eine einheitliche Rente in Ost und West. Ebenso muss die antiquierte Finanzierungsbasis reformiert werden, also Beamte und Selbständige einbezogen werden, da ohnehin klassische Erwerbsbiographien sich zunehmend auflösen und das Erwerbsleben diffuser und pluriformer wird. Diese Einbeziehung freilich wird noch nicht zu einer durchgreifenden Verbesserung der finanziellen Grundlage des Rentensystems führen, da zusätzliche Zahler auch zusätzliche Ansprüche haben.
Der seit kurzem diskutierte Vorschlag, das Jahr des Beginns der Einzahlung in die Rentenkasse zu berücksichtigen und damit bei frühzeitig Rentenversicherten auch einen früheren Renteneintritt ohne Abschlag zu ermöglichen, ist durchaus sozialethisch gerecht und sinnvoll, und darf nicht, wie von Arbeitnehmerseite geschehen, einfach als "Rente mit 63 durch die Hintertür" diffamiert werden. Denn klar ist auch angesichts steigender Lebenserwartung und besserer medizinischer Versorgung: In vielen Berufen ist eine Weiterbeschäftigung bis weit über 65 Jahren hinaus möglich und sinnvoll.
Vorbilder für Reform im Ausland
Zur durchgreifenden Reform des bundesdeutschen Rentensystems sollte man sich orientieren an Ländern, die international als herausragend markierte Rentensysteme haben, und die zugleich in vielerlei Hinsicht vergleichbar sind mit Deutschland, etwa die Niederlande oder Dänemark.
Dortige Rentensysteme garantieren ein gutes Niveau der Mindestrente bei möglichst breiter Abdeckung der Risiken. Wichtig ist aber vor allem eine gemischte Finanzierung, bei gleichzeitigem beherzten Abschied von einem Generationenvertrag: Eine steuerfinanzierte staatliche Grundrente wird ergänzt durch eine kapitalgedeckte Altersvorsorge und zwar durch betriebliche und private Fonds. Insgesamt ist die private Vorsorge für die Rente im Alter sehr viel mehr zu fördern und zu fordern; eine gerechte und auskömmliche Rente fällt nicht mehr einfach aus dem Himmel Bismarcks oder Adenauers, um es einmal etwas zugespitzt auszudrücken.
Wer privat vorsorgen kann für eine auskömmliche Altersversorgung, der ist dazu verpflichtet und vom Staat zu verpflichten. Soziale Härten etwa bei alleinerziehenden Müttern ohne die Möglichkeit zur privaten Vorsorge oder bei geringfügig Beschäftigten müssen natürlich ausgeglichen werden. Das wird sehr viel mehr Transparenz und auch mehr Bürokratie als bisher erfordern. Bürokratie ist der ärgerliche Preis für eine fein ziselierte soziale Gerechtigkeit in einer zunehmend individualisierten Single- und Patchwork-Gesellschaft. Das ist nicht zu beklagen, sondern als Zeitenwende in der Alters- und Rentensicherung mutig ins Auge zu fassen. Denn: Geld für ein immer längeres Alter fällt so wenig vom Himmel wie soziale Gerechtigkeit. Beides muß man wollen und organisieren, und die Rezepte von 1889 und 1957 helfen nur noch als Ansporn für eine notwendige Zeitenwende im Sozialstaat, wie sie einst auch Bismarck und Adenauer vor Augen hatten."
Prof. Dr. Peter Schallenberg ist Lehrstuhlinhaber für Moraltheologie an der Theologische Fakultät Paderborn.