Sektenexperte erklärt Massensuizid in Kenia

Sog der Gemeinschaft

In Kenia haben die Behörden bisher mehr als 89 Tote aufgefunden, die sich als Teil einer christlichen Sekte zu Tode gehungert haben. Wie ist dieser erschreckende Massensuizid möglich gewesen? Sektenexperte Axel Seegers gibt Antworten.

Tote in Zusammenhang mit Jesus-Hungersekte in Kenia / © Uncredited/AP (dpa)
Tote in Zusammenhang mit Jesus-Hungersekte in Kenia / © Uncredited/AP ( dpa )

DOMRADIO.DE: Kinder verhungern in der Obhut ihrer Eltern. Das klingt mehr als dramatisch. Inwiefern kann man in solchen Fällen von einem freiwilligen Hungerstreik sprechen?

Axel Seegers (Theologe und Weltanschauungsbeauftragter der Erzdiözese München-Freising): Nach meinen Erfahrungen kann man durchaus von einer Freiwilligkeit sprechen. Allerdings ist natürlich immer die Frage, was ist mit Freiwilligkeit gemeint? Einflüsse vielfältiger Natur wird es natürlich von außen immer geben. Man will dazugehören oder man vertraut dem Pastor und seinem Team oder man ist überzeugt von seinem eigenen Glauben. Es wurde einem ja auch das Himmelreich versprochen.

Axel Seegers (Theologe und Weltanschauungsbeauftragter der Erzdiözese München-Freising)

"Ich glaube auch, je länger man fastet, desto mehr gerät man in einen Sog hinein, sodass es auch immer schwerer fällt, abzubrechen."

Ich glaube auch, je länger man fastet, desto mehr gerät man in einen Sog hinein, sodass es auch immer schwerer fällt, abzubrechen. Kinder, die davon betroffen sind, vertrauen natürlich ihren Eltern. Sie leben das nach, was ihnen vorgelebt wird. Von daher wundert mich das nicht, dass durchaus freiwillig jemand so weit geht, dass es letztendlich lebensbedrohlich wird oder sogar zum Tod führen kann.

DOMRADIO.DE: Passiert ist das Ganze in der "Good News International Church", also der "Internationalen Kirche der guten Botschaft". Das klingt erstmal wenig verdächtig und irgendwie auch christlich. Wie ist die Sekte einzuordnen?

Tote im Zusammenhang mit Jesus-Hungersekte in Kenia / © Uncredited/AP (dpa)
Tote im Zusammenhang mit Jesus-Hungersekte in Kenia / © Uncredited/AP ( dpa )

Seegers: Christlich nennen sich sehr viele. Wir haben weltweit über 40.000 christliche Kirchen, die sich auch als solche verstehen. Da ist die Bandbreite natürlich recht groß. Hier hat sie ein Pastor gegründet, der eigentlich früher Taxifahrer war. Das heißt, er hat keine entsprechende Qualifikation, keine theologische Ausbildung und ist vielleicht auch mit guten Absichten gestartet.

Aber er hat immer mehr Menschen in seine Abhängigkeit geführt, in seine krude Ideologie. Es gab früher schon Problem-Anzeigen und die Behörden haben scheinbar nicht reagiert. Auch nicht die Leute um ihn herum in dieser Gemeinschaft, und so hat es Fahrt aufgenommen - eine Dynamik, die letztendlich zu dieser Katastrophe geführt hat.

DOMRADIO.DE: Überrascht Sie, dass so eine Meldung gerade aus Ostafrika kommt?

Seegers: Nicht wirklich. In Afrika gibt es eine unübersehbare Anzahl von evangelikalen und pfingstlerischen Freikirchen. Wenn man mal genauer hinschaut, merkt man, es gibt dort sehr viele Gottesdienste, die oft reine Massenveranstaltungen mit Zehntausenden Teilnehmern sind. Gottesdienste, die über mehrere Stunden gehen, wo es emotionale Einpeitscher gibt, wo der Wunderglaube eine sehr deutliche Rolle spielt oder auch magisches Denken. In den verschiedenen Ländern sind diese Gemeinschaften auf dem Vormarsch. Da ist auch nicht wirklich verwunderlich, dass es im Einzelfall zu solchen Katastrophen kommen kann.

DOMRADIO.DE: Können Sie sagen, welche Mechanismen in solchen Sekten greifen? Was zieht die Leute so an?

Der freikirchliche Pastor Paul Makenzie wurde in Kenia verhaftet / © Uncredited/AP (dpa)
Der freikirchliche Pastor Paul Makenzie wurde in Kenia verhaftet / © Uncredited/AP ( dpa )

Seegers: Ich glaube, es ist auf jeden Fall wichtig, dass erstmal Interesse da ist. Da ist ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Sinngebung, nach Orientierung. Das heißt, ich gehe in eine solche Gemeinschaft, treffe Gleichgesinnte und werde dadurch auch immer unvorsichtiger.

Das heißt, auch wenn ich zu Anfang noch der Meinung war, ich passe auf mich auf, ich fühle mich wohl, ich habe Vertrauen, ich schenke Vertrauen und dadurch entwickle ich immer mehr auch eine Identität mit dieser Gemeinschaft und bin dann auch bereit, Schritt für Schritt weiterzugehen. Sie können sich das so vorstellen: Wenn man Hochsprung macht, fängt man auch nicht gleich bei 1,50 Meter an, sondern fängt klein an. Die Hürde wird langsam höher gelegt. Im Grunde genommen ist es bei solchen Gruppierungen umgekehrt.  Die Hürde, die ich zu Anfang hatte, die Bedenken, werden immer niedriger gelegt und irgendwann springe ich über Dinge, von denen ich vorher gesagt hätte: Mache ich nicht.

DOMRADIO.DE: In den vergangenen Jahren haben neben Corona, Überschwemmungen, Katastrophen oder Heuschrecken das Leben in Ostafrika nicht gerade leichter gemacht. Inwiefern kann auch so etwas eine Rolle spielen?

Axel Seegers (Theologe und Weltanschauungsbeauftragter der Erzdiözese München-Freising)

"Genau diese ganzen zusätzlichen Situationen der Druckausübung führen dazu, dass die Gefahren stärker werden, in eine Einseitigkeit hineinzugeraten, bis dahin, dass man sogar das eigene Leben aufs Spiel setzt."

Seegers: Ganz sicher sind alle psychischen und sozialen Faktoren, die Druck aufbauen, die zur Abschottung führen, relevant. Diese Gemeinschaft war auch sehr abgeschottet. Das heißt, Kritik von außen hatte keine Chance. Es gab keine Möglichkeit mehr, Positionen oder Meinungen zu relativieren. Genau diese ganzen zusätzlichen Situationen der Druckausübung führen dazu, dass die Gefahren stärker werden, in eine Einseitigkeit hineinzugeraten, bis dahin, dass man sogar das eigene Leben aufs Spiel setzt.

DOMRADIO.DE: Wie kann der Ausstieg aus einer Sekte gelingen?

Seegers: Das Problem ist, dass wir nicht von den Sekten oder der einen Sekte pauschal sprechen können, sondern es gibt eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Gruppierungen. Ich glaube, es ist wichtig sich auch immer den Einzelfall anzuschauen, weil Menschen in unterschiedlichen Gruppen sehr unterschiedlich eingebunden sind und reagieren. Von daher empfehlen wir immer relativ frühzeitig, wenn es irgendwelche Rückfragen gibt oder wenn es ein Unwohlsein gibt, auch bei den Angehörigen oder Freunden drumherum, sich relativ zeitnah Hilfe zu holen, Beratung zu holen, sich den Einzelfall anzuschauen.

Wichtig ist, dass man versucht, sich irgendwie Informationen zu beschaffen. Wichtig ist auch, dass man sich rechtzeitig überlegt, was man akzeptieren will und wo man die Grenzen setzt. Meine Empfehlung ist immer, sich mit einem eigenen Vertrag zu verpflichten, in dem man festhält, was man zulassen will. Wenn ich diesen Vertrag breche, weil ich doch mehr Zeit investiere oder Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun wollte, sehe ich das. Dann sollte man sich erst wieder rückversichern und nicht sofort einfach weitermachen.

Das Interview führte Elena Hong.

Quelle:
DR
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