Seit acht Jahren herrscht Krieg im Jemen

"Eine Generation ohne Kindheit"

An diesem Sonntag jährt sich der Kriegsbeginn im Jemen zum achten Mal. Die Angst vor Waffengewalt und Minenunfällen gehört für viele Kinder zum Alltag. Die Organisation Save the Children fordert dringend Geld für humanitäre Hilfe.

Kinder sitzen vor einem Zelt im Lager Dharawan für Binnenflüchtlinge in der Nähe von Sanaa im Jemen (Archiv) / © Mohammed Mohammed (dpa)
Kinder sitzen vor einem Zelt im Lager Dharawan für Binnenflüchtlinge in der Nähe von Sanaa im Jemen (Archiv) / © Mohammed Mohammed ( dpa )

DOMRADIO.DE: Ein achtjähriges Kind im Jemen kennt nichts anderes als den Krieg. Was heißt das? Was wächst da für eine Generation von Mädchen und Jungen heran?

Lea Meyer (Ansprechpartnerin für humanitäre Hilfe bei Save the Children Deutschland): Wir sehen im Jemen eine Generation an Kindern, die keine Kindheit kennt, wie wir sie hier kennen. Der Kriegszustand ist der Normalzustand und das spiegelt sich natürlich in allen Lebensbereichen wider, angefangen bei den ganz Alltäglichen. Wir sehen viele Kinder, die extrem mangelernährt sind, weil sie zu wenig Lebensmittel zur Verfügung haben.

Dazu kommt diese tägliche Angst vor der Waffengewalt oder davor, dass Angehörige Opfer von schweren Angriffen werden. Wir sehen gleichzeitig eine Generation an Kindern, die unheimlich resilient ist. Das berichten unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort immer wieder, wenn sie mit den Kindern sprechen. Hier möchte ich auch gerne ein kurzes Beispiel geben von Maha, die auch im Bericht ihre Geschichte erzählt. Maha ist zehn Jahre alt und mit ihrer Schwester beim Holzsammeln auf eine Mine getreten und hat dadurch schwere Verletzungen erlitten. Ihr fehlt ein Auge und ein Arm und trotzdem möchte sie Ärztin werden und sich für die zukünftigen Generationen einsetzen.

Lea Meyer

"Wir sehen im Jemen eine Generation an Kindern, die keine Kindheit kennt, wie wir sie hier kennen."

DOMRADIO.DE: Das ist ein Beispiel von ganz vielen, denn in diesen acht Kriegsjahren sind über 11.000 Kinder getötet oder verstümmelt worden, wie das Mädchen aus dem Beispiel. Und das zeigt der Bericht, den Sie gerade erwähnt haben, den Sie von Save the Children zum Jahrestag herausgegeben haben. Eine ganz besonders perfide Rolle spielen da Blindgänger und Landminen. Was wissen Sie darüber?

Meyer: In diesem Bericht haben wir uns den Zeitraum zwischen 2018 und 2022 noch mal genauer angeschaut und insbesondere die Auswirkungen von Landminen und anderen explosiven Kriegsrückständen, also das, was wir als Blindgänger kennen, untersucht. Wir haben einen Trend festgestellt, dass inzwischen jeden zweiten Tag ein Kind verletzt oder getötet wird bei Berührung mit einer Mine, die dann explodiert.

Unicef: Alle zehn Minuten stirbt ein Kind im Jemen

Im Bürgerkriegsland Jemen sind elf Millionen Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen. Alle zehn Minuten sterbe ein Kind aufgrund vermeidbarer Ursachen, teilte das UN-Kinderhilfswerk Unicef am Freitag in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa mit. Nachdem der seit acht Jahren andauernde Konflikt die Wirtschaft und das Sozialsystem des südarabischen Landes ruiniert habe, litten 2,2 Millionen Kinder an akuter Mangelernährung, davon 540.000 an einer lebensbedrohlich schweren Form.

Mediziner verlegen im Krankenhaus ein Kind, das bei einem Luftangriff in der Provinz al-Jawf verletzt wurde (Archiv) / © Mohammed Mohammed (dpa)
Mediziner verlegen im Krankenhaus ein Kind, das bei einem Luftangriff in der Provinz al-Jawf verletzt wurde (Archiv) / © Mohammed Mohammed ( dpa )

Gleichzeitig sehen wir auch, dass das ganz häufig passiert beim Spielen oder auf dem Schulweg. An Orten, die eigentlich sichere Orte für Kinder sein sollten. In Schulen kommt es sehr häufig zu Explosionen. Aber eben auch diese sehr langfristigen Folgen beim Einsatz von Explosivwaffen in Wohngebieten, die natürlich das Leben der Kinder im Jemen beeinträchtigt, sehen wir mit großer Sorge.

DOMRADIO.DE: Im vergangenen Jahr gab es mal eine sechsmonatige Waffenruhe. Aber diese Zeit war für die Kinder kaum weniger gefährlich. Warum?

Meyer: Ja, in der Tat hatten sich die Kriegsparteien zwischen April und Oktober 2022 auf eine Waffenruhe verständigt. In dieser Zeit haben wir zwei Trends gesehen. Der eine ist, dass die insgesamte Zahl der Todesfälle bei Kindern zwar zurückging ist, aber gleichzeitig kam es zu einer Zunahme an Todesfällen durch Minen und Blindgänger. Und das ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass viele Familien und Kinder sich auf der Flucht im Land befinden und dann in dieser Waffenruhe zurückgekehrt sind in ihre Heimatregionen. Auf diesen Wegen kam es häufig zu tödlichen Unfällen.

DOMRADIO.DE: Die Kinder schweben wirklich in ständiger Gefahr für Leib und Seele. Was macht das psychisch mit denen?

Meyer: Wir sehen vor Ort in den Gesprächen, dass ganz viele Kinder psychisch enorm belastet sind. Sie erzählen von Schlafstörungen, von Angstzuständen. Sie trauen sich nicht mehr, alleine nach draußen zu gehen, weil sie sich ständig fürchten, in eine tödliche Falle zu treten.

Gleichzeitig sehen wir auch viele Kinder, denen beispielsweise durch eine Landmine ein Bein amputiert werden musste, die nicht mehr zur Schule gehen können, weil sie einfach so eingeschränkt sind und sich sozial isolieren. Das macht natürlich ganz viel mit der Psyche eines Kindes. Aus dem Grund legen wir auch so einen hohen Stellenwert auf die psychosoziale Unterstützung, die unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort auch Tag für Tag umsetzen und versuchen, Kindern ein bisschen mehr Normalität zu ermöglichen.

DOMRADIO.DE: Das ist der traurige Stand der Dinge, wenn sich der Kriegsbeginn im Jemen am Sonntag zum achten Mal jährt. Was fordern Sie von Save the Children? Was muss am dringendsten passieren?

Meyer: Vielleicht noch mal übergeordnet: Was wir fordern ist vor allem, dass die Kinder im Jemen nicht in Vergessenheit geraten. Hier spielen wir alle eine wichtige Rolle, auch die Medien, aber eben auch die Regierung. Hier möchte ich mich auch noch mal direkt an die Bundesregierung wenden und drei Punkte herausstellen.

Wir fordern natürlich, dass die dringend benötigten Hilfsgelder für humanitäre Hilfe, aber eben auch für die Entwöhnung zur Verfügung gestellt werden, hier ein besonderer Fokus auf psychosoziale Unterstützung zu legen. Und das zweite ist die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, sodass Waffen nicht mehr in Wohngebieten eingesetzt werden. Und letztlich fordern wir auch, dass die Verantwortlichen für diese schweren Verbrechen an Kindern zur Rechenschaft gezogen werden.

Das Interview führte Hilde Regeniter.

Quelle:
DR