Die Erinnerung an die Pogromnacht vom 9. November 1938 und die Verbrechen gegen die Juden im nationalsozialistischen Deutschland droht nach den Worten von Josef Schuster zu einer hohlen Geste zu werden. Beherrscht würden die Debatten rund um diesen Tag von der Phrase "Nie wieder", schreibt der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland in einem Gastbeitrag für die Samstagsausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Dieses "Nie wieder" sei jedoch für viele zu einer Floskel verkommen, "hinter der man sich heute verschanzt, um den Rest des Jahres unverdächtig zu sein".
Dem deutschen Ausruf "Nie wieder" wohne ein falsches Verständnis inne, kritisiert der Zentralratspräsident. "Dem Deutschen geht es darum, nie wieder Schuld auf sich zu laden. Für uns Juden bedeutet 'Nie wieder' hingegen: Nie wieder Opfer sein. Nie wieder wehrlos ausgeliefert sein, wenn fremde Mächte über das eigene Schicksal bestimmen wollen."
"Mit Hass im Herzen und auf den Lippen"
Scharf geht Schuster mit propalästinensischen Demonstrationen ins Gericht, bei denen Menschen "mit Hass im Herzen und auf den Lippen" durch Berlins Straßen zögen. "Nicht 1938, sondern jetzt. Diese Menschen erdreisten sich, 'Nie wieder' zu rufen. Sie prangern damit nicht die Übergriffe auf Juden an. Ihr Ziel ist es, das Handeln Israels zu dämonisieren. 'Nie wieder', gerichtet gegen den einzigen jüdischen Staat. Eine Perversion der Geschichte."
Selbstverständlich könne man das Handeln der israelischen Regierung kritisieren, betont der Zentralratspräsident. "Ich werde nicht müde, das zu tun - doch ich bin es leid, als Replik auf Beiträge wie diesen regelmäßig zu hören, man könne 'keine Kritik an Israel üben, ohne als Antisemit zu gelten'."
Zivilcourage zeigen
In dem Gastbeitrag erinnert Schuster an Paul Spiegel, einen seiner Amtsvorgänger. Dieser hatte im Jahr 2000 unter dem Motto "Nie wieder Judenhass!" einen "Aufstand der Anständigen" beschworen. "Sehe ich mich heute um in unserem Land, so muss ich feststellen: Entweder sind die Anständigen weniger geworden, oder sie sitzen untätig auf den Zuschauerrängen."
Zum 9. November gelte es, Zivilcourage zu zeigen. "Lassen Sie es nicht bei der Floskel 'Nie wieder' bewenden", schreibt Schuster. "Werden Sie Teil eines neuen Aufstands der Anständigen. Ein Aufstand gegen jede Form des Antisemitismus und an jedem Tag des Jahres."
Nach unterschiedlichen Schätzungen wurden zwischen dem 7. und 13. November 1938 im damaligen Gebiet des Deutschen Reichs zwischen 400 und 1.300 Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben. Mehr als 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Rund 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt.