Ein "sehender Handschuh" für Menschen mit Seheinschränkung

Revolutioniert "Unfolding Space" den Alltag?

An der "Köln International School of Design" wird zurzeit ein Handschuh entwickelt, der in einem Radius von zwei Metern Hindernisse erkennt. Unsere Volontärin Nina Odenius ist selbst blind und hat den Handschuh ausprobiert. Ihr Urteil?

Autor/in:
Nina Odenius
Nina Odenius und Jakob Kilian testen den Handschuh "Unfolding Space" (privat)
Nina Odenius und Jakob Kilian testen den Handschuh "Unfolding Space" / ( privat )

Mit der Bahn fahre ich zur "Köln International School of Design". Sie liegt in der Kölner Südstadt und ist ein Teil der Technischen Hochschule Köln. Hier treffe ich Jakob Kilian. Der 27-Jährige nimmt mich freundlich in Empfang. Ich bin sehr gespannt, denn ich nehme zum ersten Mal an einer wissenschaftlichen Studie teil. Jakob Kilian hat den Handschuh im Rahmen seiner Masterarbeit entwickelt.

Die Studie

Insgesamt besteht die Studie aus drei Sitzungen. Es nehmen circa 18 Probandinnen und Probanden im Zeitraum von Anfang August bis Mitte September daran teil. Kooperationspartner ist neben der "Köln International School of Design" das "Zeiss Vision Science Lab" des ophthalmologischen Klinikums der Universität Tübingen.

Die Hälfte der Probandinnen und Probanden ist sehend, die andere Hälfte blind. Alle tragen während der Testläufe eine Dunkelbrille, damit die gleichen Bedingungen vorliegen. Jakob Kilian baut verschiedene Hindernisparcours aus Pappcartons auf. Diese werden abwechselnd mit dem Blindenlangstock und dem Handschuh durchlaufen. Zeit und die Anzahl der Kollisionen werden gemessen, um herauszufinden, wie gut man mit dem Handschuh durch den Hindernisparcours kommt. Die sehenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekommen ein Training sowohl im Umgang mit dem Blindenlangstock als auch mit dem Handschuh. Für mich ist nur der Umgang mit dem Handschuh neu.

Der Handschuh

Es ist ein ganz normaler Arbeitshandschuh mit abgeschnittenen Fingerkuppen. So kann man mit den freien Fingern noch gut fühlen und greifen. Jakob Kilian hat den zweilagigen Handschuh aus verschiedenen Modellen selbst zusammengenäht. Es gibt eine dünne und eine dicke Lage. Die dünne Lage befindet sich innen und die dicke außen am Handschuh. Zwischen den beiden Lagen sind neun Vibrationsmotoren und die dazugehörigen Kabel versteckt. Auf der dicken äußeren Lage sind mit Klettverschluss eine 3D-Kamera und ein kleiner Computer befestigt. "Die Textilien des Handschuhs müssen flexibel sein, damit sie auf jede Handgröße passen. Außerdem müssen die Textilien robust sein und dürfen nicht schnell kaputt gehen", erklärt Jakob Kilian. "Dabei dürfen die beiden Lagen nicht zu dick sein, damit die Vibrationsmotoren Kontakt zur Haut des Nutzers haben."

Die 3D-Kamera des Handschuhs scannt den Raum und übergibt das dreidimensionale Bild an den kleinen Computer. Dieser wandelt das Bild in Vibration um. Vibriert es beispielsweise in der Mitte auf meiner Hand weiß ich, dass das Objekt vor mir steht. Je näher ich dem Gegenstand komme, desto stärker wird die Vibration. Deshalb heißt der Handschuh auch "Unfolding Space", denn unfolding bedeutet "aufklappen" oder "darlegen" und space ist der "Raum". Der Raum wird sozusagen aufgefaltet, da es um die Entfernung der Objekte geht und die Kamera die Tiefe des Raumes scannt.

Die Idee zum Handschuh

Jakob Kilian studiert Integrated Design an der "Köln International School of Design". Er hat sich schon in seiner Bachelorarbeit vor vier Jahren mit Sensorik beschäftigt. Die Idee des Handschuhs beruht auf dem Verfahren der Sensorischen Substitution. Das bedeutet, dass die Funktion eines fehlenden oder defekten Sinnes durch die Stimulation eines anderen ersetzt oder ergänzt werden kann. Daraus entstand die Idee,eine Technik zu entwickeln, die den fehlenden Sehsinn ergänzen beziehungsweise ersetzen könnte.

Vorher hatte Jakob Kilian keinen Kontakt zu blinden oder sehbehinderten Menschen. Zur Vorbereitung auf die wissenschaftliche Studie nahm er Mobilitätstraining, um von einer speziell dafür ausgebildeten Trainerin den Umgang mit dem Blindenlangstock zu erlernen und herauszufinden, wie sich blinde und sehbehinderte Menschen im Straßenverkehr und im öffentlichen Raum orientieren. Im Rahmen eines solchen Mobilitätstrainings lernte ich Jakob Kilian kennen und erfuhr von seinem Projekt. Ich wurde neugierig und erklärte mich bereit, an der Studie teilzunehmen.

Der Selbstversuch

Nun sollte es endlich losgehen. Der Handschuh wird an der linken Hand getragen. An meinem Oberarm wird eine Manschette, auf der sich der Akku befindet, befestigt. Akku und Handschuh werden mit einem Kabel verbunden. Ich halte meine linke Hand vor den Bauch, sodass der Handrücken mit der 3D-Kamera nach vorne zeigt. Ich mache kleine Bewegungen mit der Hand von links nach rechts, damit die Kamera alles im Blick hat. Ich laufe los und bin ein wenig aufgeregt. Es ist ein völlig neues Gefühl, sich auf das Gerät und die Vibration zu verlassen.

Auf meinen Fingern beginnt es leicht zu vibrieren. Ein Gegenstand befindet sich also rechts von mir. Ich laufe darauf zu und je näher ich komme, verstärkt sich die Vibration. Als ich nur noch wenige Zentimeter vom Pappkarton entfernt bin, gibt es eine Art Zuckeln im Handschuh. Das ist das Warnsignal, dass ich jetzt nicht mehr weitergehen sollte. Wenn ich die Hand nach oben und nach unten oder nach links und rechts bewege, kann ich feststellen, wie hoch und wie breit das Hindernis ist. Ich bin überrascht, wie genau der Handschuh die Hindernisse im Raum erkennt. Im Verlauf der drei Sitzungen werde ich immer sicherer im Umgang mit der neuen Technik.

Gerne würde ich den Handschuh im Alltag testen, um zu sehen wie praxistauglich er im öffentlichen Raum ist. Aber erst einmal handelt es sich hier um einen Prototyp, der nur in der wissenschaftlichen Studie getestet wird.

Eine Ergänzung zum Blindenlangstock

Es wird noch mehrere Jahre dauern, um den Handschuh weiterzuentwickeln. Momentan ist er ausschließlich ein Forschungsprojekt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass er eine gute Ergänzung zum Blindenlangstock wäre, aber keine Alternative.

Der Blindenlangstock kennzeichnet blinde und sehbehinderte Menschen im Straßenverkehr und im öffentlichen Raum. Er erkennt Unebenheiten im Boden oder Stufen. Bodenveränderungen können auch gute Orientierungspunkte sein. Während ich mit dem Stock Hindernisse erkenne, wenn ich sie damit berühre, kann der Handschuh diese in einem Radius von zwei Metern wahrnehmen. Der Handschuh könnte mich durch seine Vibration auf Dinge hinweisen, die ich mit dem Blindenlangstock unterpendeln würde wie beispielsweise Fahrradlenker, E-Scooter oder offene Ladeklappen von LKWs.

Deshalb könnte ich mir eine Kombination aus Blindenlangstock und Handschuh gut vorstellen.

Auch Jakob Kilian betont, dass eine Weiterentwicklung des Handschuhs möglich ist. Aber auch er sieht den Handschuh als Ergänzung zum Blindenlangstock, nicht als Alternative. Nach Beendigung der Studie und der Abgabe seiner Masterarbeit werden alle Daten zum Handschuh im Internet veröffentlicht, sodass er weiterentwickelt werden kann.

Lassen wir uns überraschen, was in den nächsten Jahren in der Forschung passiert.


Mit dem Handschuh im Parcours (privat)
Mit dem Handschuh im Parcours / ( privat )

Der Handschuh passt (privat)
Der Handschuh passt / ( privat )

Mit dem Blindenlangstock unterwegs (privat)
Mit dem Blindenlangstock unterwegs / ( privat )
Quelle:
DR
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