Refrather Pallottinerin schaut auf Corona-Zeit im Altenheim zurück

"Wir hätten die Sterbenden nicht alleine lassen dürfen"

40 Jahre lang hat Schwester Reginata Nühlen Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet. Während der Pandemie war der Kontakt zu alten und kranken Menschen strikt untersagt. Für sie bleibt das ein Schmerz, den sie nicht vergisst.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Pflegebett mit Aufrichter / © Julia Steinbrecht (KNA)
Pflegebett mit Aufrichter / © Julia Steinbrecht ( KNA )

"Irgendetwas stimmte nicht", erinnert sich Schwester Reginata Nühlen noch ganz genau an die Tage Mitte März vor fünf Jahren. Doch mehr als Gewissheit war es ein diffuses Gefühl, Vorbote einer sich anbahnenden Katastrophe. Dann gab es mit einem Mal in der Zeitung die Meldung einer erschreckend hohen Zahl an Verstorbenen aus einem Gladbacher Altenheim, während sich die Nachrichten in den Folgewochen in regelmäßigen Abständen überschlugen. 

Der Schmerz, sich in der Pandemie nicht um Sterbende kümmern zu können, sitzt bei Sr. Reginata bis heute tief (Archivbild)  / © Beatrice Tomasetti (DR)
Der Schmerz, sich in der Pandemie nicht um Sterbende kümmern zu können, sitzt bei Sr. Reginata bis heute tief (Archivbild) / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Die traurige Statistik über Todesopfer in Senioreneinrichtungen im Kontext von Covid führte innerhalb der ganzen Stadt schließlich erkennbar das Refrather St. Josefshaus im Junkersgut an. Eigentlich ein einst vom Orden der Pallottinerinnen gegründetes Haus inmitten eines grünen Arreals am Rande der Stadt, das für ein beispielloses Mehr an menschlicher Zugewandtheit, Fürsorge und Begleitung stand.

Und nun das. Was die Ordensfrau und mit ihr der damals elfköpfige Konvent, der seine Klausur in der letzten Etage unterm Dach hat, zunächst nicht wahrhaben wollte, hielt sich wie ein Dauerbrenner in den lokalen Schlagzeilen. Jeden Tag verzeichnete die Einrichtung die meisten Todesfälle, an einem Wochenende sogar sieben auf einmal. Plötzlich geriet dieses besondere Alten- und Pflegeheim mit seinem Negativrekord ungewollt in den Fokus. Und das war erst die Spitze des Eisbergs. "So erschreckend diese Tatsache war", erklärt Schwester Reginata rückblickend, "das Schlimmste war, dass wir gleichzeitig für sechs Wochen auch innerhalb unserer Gemeinschaft zu absoluter Isolation verurteilt wurden und nichts machen konnten, kein gemeinschaftliches Stundengebet stattfinden durfte, jede Schwester für sich auf dem Zimmer bleiben musste und überhaupt kein Zusammenleben, wie es für uns sonst typisch ist, mehr stattfand." Während das Sterben der an Corona erkrankten alten Menschen, die dem Virus keine Lebensenergie mehr entgegenzusetzen hatten, unaufhaltsam weiterging – wie in vielen anderen Altenheimen bundesweit auch.

Schwester Reginata Nühlen

"Es begann eine furchtbare Zeit."

Niemand durfte sich um die fassungslosen Angehörigen kümmern, sie trösten, ihnen ein persönliches Wort des Zuspruchs sagen und sie in ihrer Trauer auffangen. "Als lebten wir sprichwörtlich eingesperrt hinter Klostermauern." Noch heute höre sie den Hausmeister in der Kapelle rufen: "Raus hier! Ich habe den Auftrag, jede Form von Versammlung aufzulösen." Als ausgesprochen brutal habe sie das empfunden. "Es begann eine furchtbare Zeit." 

Andererseits erkranken unmittelbar danach – gleich in der ersten Lockdown-Phase – sieben der elf Schwestern. Schwester Reginata selbst bleibt von Corona verschont und macht es sich trotz ihrer Gehbehinderung zur Aufgabe, dreimal am Tag den Patientinnen jeweils das Essen vor die Tür zu stellen und im Refektorium verschiedene kleine Dienste zu übernehmen. Für sie eine Art willkommener Abwechslung in einem völlig heruntergefahrenen Kommunitätsleben.

38 Jahre lang war die Pallottinerin in Bensberg Krankenhausseelsorgerin / © Beatrice Tomasetti (DR)
38 Jahre lang war die Pallottinerin in Bensberg Krankenhausseelsorgerin / © Beatrice Tomasetti ( DR )

"Dass es auch uns gleich zu Beginn so massiv erwischt hatte, wir uns trotz sofortiger Einhaltung aller Hygienemaßnahmen nicht hatten absichern können, war höchst irritierend und auch beängstigend", so die heute 87-Jährige. "Denn natürlich war die Ansteckungsgefahr durch das Virus allgegenwärtig. Auf jedem Flur und an jeder Tür informierten daher Aushänge freundlich, aber unmissverständlich über geltende Hygienemaßnahmen oder das bestehende Besuchsverbot. Alles haben wir befolgt." Was dazu geführt habe, dass sie von der Außenwelt in der Akutphase so gut wie abgeschnitten gewesen seien, aber eben vor allem auch die Bewohner. "Zum Glück war Telefonieren eine gute Ablenkung. Auch eine gelegentliche Runde durch den Park oder die tägliche Anbetung vor dem ausgesetzten Allerheiligsten in der Kapelle – dann aber mit größtmöglichem Sicherheitsabstand zueinander – waren in späteren Lockerungsphasen immer mal wieder erlaubt."

Schwester Reginata Nühlen

"Wir sind doch nicht nur eine zusammengewürfelte Bet- und Tischgemeinschaft, sondern vor allem auch eine geistliche Lebensgemeinschaft, aus der wir viel Kraft beziehen."

Lange Zeit habe es zur alltäglichen Herausforderung gehört, den gebotenen Abstand voneinander einzuhalten und trotz eines Lebens auf begrenztem Raum keinen Lagerkoller zu entwickeln. Selbst wenn das Stundengebet immer schon dem Tag eine feste Struktur gegeben habe, sei es zu diesem Zeitpunkt ein noch wichtigerer Hoffnungsanker gewesen und habe in Zeiten des allgemeinen Stillstands wesentlich mehr Raum als früher eingenommen. "Wir sind doch nicht nur eine zusammengewürfelte Bet- und Tischgemeinschaft, sondern vor allem auch eine geistliche Lebensgemeinschaft, aus der wir viel Kraft beziehen", stellt Schwester Reginata fest, deren Konvent in den letzten Jahren auf vier verbliebene Mitglieder geschrumpft ist. Von daher habe ihr damals neben ihrer gewohnten Tätigkeit, sich weitgehend um die Bedürfnisse anderer zu kümmern, vor allem der spirituelle Austausch mit den Mitschwestern gefehlt.

Zugewandtheit und seelsorgliche Begleitung prägten jahrzehntelang das Leben von Sr. Reginata Nühlen (Archivbild)  / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zugewandtheit und seelsorgliche Begleitung prägten jahrzehntelang das Leben von Sr. Reginata Nühlen (Archivbild) / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Besonders hart trifft es Schwester Reginata, als Mitschwester Fernandis im wenige Kilometer entfernten Bensberger Hospiz im Sterben liegt und sie nicht zu ihr kann. "Dabei haben wir 40 Jahre miteinander zusammengelebt, Freud und Leid miteinander geteilt", erzählt Schwester Reginata. "Es wäre mein Wunsch gewesen, in den letzten Stunden ihre Hand zu halten, ihr nahe zu sein und etwas von der Last des Loslassens zu nehmen." Bis heute habe sie nicht verstanden, wie die Politik ein derart unmenschliches Verhalten durchsetzen und alle Regeln von Solidarität oder christlicher Nächstenliebe aushebeln konnte. "Wir hätten die Sterbenden nicht alleine lassen dürfen", ist die Pallottinerin heute mehr denn je überzeugt.

Schwester Reginata Nühlen

"Es widersprach allen Grundsätzen des Menschseins, so zu handeln, und bleibt für mich bis heute ein Schmerz, den ich nicht vergessen kann."

"Inzwischen weiß man, dass es falsch war, alte, kranke oder sterbende Menschen so zu isolieren, dass sie sich völlig allein gelassen vorkommen mussten und einen einsamen Tod gestorben sind." Mit dieser Unbarmherzigkeit habe sie sehr gehadert. "Denn es widersprach allen Grundsätzen des Menschseins, so zu handeln, und bleibt für mich bis heute ein Schmerz, den ich nicht vergessen kann. Schließlich musste ich das Gegenteil von dem tun, was mir im Orden aufgetragen worden war und meinem ureigenen Selbstverständnis entspricht. Das auszuhalten, war einfach furchtbar schwer."

Die Pallottinerschwestern Reginata und Pacifica leben seit 2017 im Refrather Konvent (Archivbild)  / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Pallottinerschwestern Reginata und Pacifica leben seit 2017 im Refrather Konvent (Archivbild) / © Beatrice Tomasetti ( DR )

38 Jahre war Schwester Reginata im Bensberger Vinzenz Pallotti Hospital Krankenhausseelsorgerin, an unzähligen Betten hat sie gesessen, wenn es ans Abschiednehmen ging und mitunter für das Unbegreifliche ein religiöses Ritual Linderung schaffen oder Trost bedeuten konnte, es oft aber auch gar nicht großer Worte bedurfte, sondern allein das Dabei-Sein zählte. "In der Sterbestunde an dem Bett eines Menschen auszuharren, für ihn zu beten und ihm Mut zu machen – damit habe ich einen Großteil meines Lebens verbracht. Daran von einem Tag auf den anderen mit aller Macht gehindert zu werden, war für mich ein gewaltsames Rausreißen aus meinem Lebensideal." 

Das Einzige, was ihr in diesen langen Wochen und Monaten der Corona-Zeit geblieben sei, war das Gebet. "Immer wieder habe ich Gott dieses unermessliche Leid, das ja für uns alle eine harte Prüfung bedeutete, hingehalten und versucht, mich mit dem Schmerz der Sterbenden und derer, die zurückbleiben, zu verbinden."

Über die Pallottinerinnen

Der römische Priester Vinzenz Pallotti, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter der sozialen und geistigen Not seiner Zeit litt, vertrat die Auffassung, dass es die Aufgabe jedes Christen ist, das Evangelium und dessen Geist in jedem Beruf, in jeder Lebenssituation glaubwürdig zu bezeugen. Den religiösen, pastoralen und sozialen Herausforderungen seiner Zeit begegnete er daher mit einer Vision.

Symbolbild Ordensfrauen unterwegs / © KrzysiuKadruje (shutterstock)
Symbolbild Ordensfrauen unterwegs / © KrzysiuKadruje ( shutterstock )
Quelle:
DR

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