Politologe an katholischer Uni blickt auf Johnson-Rücktritt

Chaotische Situation

Nach massivem Druck hat der britische Premierminister Boris Johnson seinen Rücktritt als Parteichef der Konservativen erklärt. Bis zur Wahl eines Nachfolgers will er aber Regierungschef bleiben. Wie geht es weiter?

Boris Johnson / © Stefan Rousseau (dpa)
Boris Johnson / © Stefan Rousseau ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie ist die politische Situation im Land?

Prof. Dr. Stefan Schieren (Politikwissenschaftler an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt): Das Chaos ist wirklich ganz erstaunlich. Zum einen ist die regionale Spaltung des Landes deutlich sichtbar. Das zweite Unabhängigkeitsreferendum in Schottland ist angekündigt worden. Dann ist da noch die soziale Spaltung. Alles ist in London konzentriert. Diese Spaltung ist unter Johnson als Premierminister vertieft worden, weil Johnson seine Stellung ganz erheblich dadurch gestärkt hat, dass er immer populistischen Stimmungen nachgegeben hat.

DOMRADIO.DE: Kann man denn schon sagen, wie es jetzt weitergeht?

Schieren: Es ist ganz schwer zu sagen, was passieren wird. Wenn es ganz normal läuft, wird es am Montag mit dem berühmten 1922-Komitee der Hinterbänkler weitergehen, die das Verfahren festlegen. Dann können sich Kandidaten melden. Es wird in einem sehr aufwendigen Verfahren durch die Fraktion jeder Kandidat in verschiedenen Wahlgängen ausscheiden. Dann gibt es noch eine Auswahl zwischen den letzten beiden Kandidaten. Die Parteibasis bestimmt in einer Mitgliederabstimmung, wer der Sieger sein wird.

Das ganze Verfahren hat das letzte Mal, glaube ich, fast zwei Monate gedauert. Jetzt gibt es noch die Sommerpause. Anfang Oktober sind die Parteikonferenzen. Also wenn es normal läuft, dauert es noch lange und Johnson bliebe dann solange im Amt.

Es gibt sogar einige, die sagen, dass sich die Partei in diesem Prozess so zerstreitet, dass er am Ende gefragt wird, ob er noch weiter machen kann. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Aber das ist eine Diskussion und zeigt, wie chaotisch die Situation in Großbritannien ist.

Der zweite Punkt könnte schließlich so aussehen. Wenn man nicht das macht, was Johnson möchte, dann kann es sein, dass dieser das Parlament auflöst und es Neuwahlen gibt. Dann werden mindestens 100, eher 150 konservative Mitglieder des Parlaments ihren Sitz verlieren. Er hat also auch ein gewisses Drohpotenzial in der Hand, mittels Auflösung des Parlaments zu vermitteln, dass er zeigen kann, wo der Hase langläuft, wenn man nicht das macht, was er will. Insofern kann es sein, dass das die konservative Partei auseinanderfliegt.

Prof. Dr. Stefan Schieren (Politikwissenschaftler an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt)

"Wenn nur einer ganz früh in diesem Auswahlprozess übrig bleibt, dann kann das schon nächste Woche oder übernächste Woche erledigt sein."

DOMRADIO.DE: Was bringt es denn, wenn Johnson zwar als Parteivorsitzender zurücktritt, aber als Regierungschef bis Herbst im Amt bleiben will?

Schieren: Wenn alle staatspolitische Verantwortung übernehmen würden, dann würde man sagen, das geht nicht. Man würde das Verfahren zum Beispiel, soweit es möglich ist, straffen. Im Idealfall würden sich alle infrage kommenden Beteiligten darauf verständigen, kein Verfahren mit Ausscheidung zu eröffnen, sondern direkt klären, wer die größten Chancen hat.

Oder wenn nur ein Kandidat ganz früh in diesem Auswahlprozess übrig bleibt, dann kann das schon nächste Woche oder übernächste Woche erledigt sein.

Aber dann müssen alle Verantwortung übernehmen und sagen, dass das Interesse des Landes vor dem eigenen Interesse steht, Premierminister werden zu wollen. Angesichts der Ereignisse der letzten Wochen und Monate und eigentlich zweieinhalb Jahre wäre ich nicht allzu zuversichtlich, dass diese Einsicht tatsächlich besteht. Ausschließen kann man es aber nicht.

DOMRADIO.DE: Könnte sich die politische Richtung mit Blick auf Europa mit einer neuen Person wieder ändern?

Schieren: An der Person Johnson machen sich schon sehr viele Widerstände und auch Ablehnung gerade in Schottland fest. Wenn jemand mit einem seriöseren Stil und mit rationaleren Prozessen das Amt übernimmt, wird sich schon im Stil einiges ändern. Vor allen Dingen wenn es nicht jemand ist, der so lange die Dinge leugnet, bis sie nicht mehr zu widerlegen sind. Ob sich aber am Inhalt der Politik etwas ändert, bin ich mir nicht sicher.

Prof. Dr. Stefan Schieren (Politikwissenschaftler an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt)

"Viele Probleme sind weiter schwelend und könnten sich auch weiter zuspitzen"

DOMRADIO.DE: Könnte der oder die Johnson-Nachfolger*in auch etwas im religiösen Konflikt in Nordirland verändern?

Schieren: Das ist eine ganz spannende und offene Frage, die ich nicht in dem Sinne beantworten kann, ob sich etwas ändern wird oder nicht. Vielmehr kann man die Situation beschreiben, woraus denn eigentlich das große Problem besteht.

Es gibt das Nordirland-Protokoll, was faktisch zu einer Handelsgrenze zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich geführt hat. Deswegen haben die nordirischen Unionisten ihre Unterstützung im nordirischen Regionalparlament zurückgezogen. Bei den Wahlen im Frühjahr hat paradoxerweise das erste Mal in der Geschichte Nordirlands die katholische Minderheit die meisten Stimmen im nordirischen Parlament gewonnen.

Auch bei der letzten Unterhauswahl 2019 haben mehr für die Parteien gestimmt, die für die Abspaltung vom Vereinigten Königreich sind. Da braut sich was zusammen, weil nämlich diese Grenze zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich als Folge des Brexit, als Vorstufe für diese Abspaltung und für die Vereinigung Irlands mit Nordirland gesehen wird.

Jetzt will man dieses Nordirland-Protokoll durch ein Gesetz, das auch schon in der zweiten oder dritten Lesung beraten worden ist, aussetzen. Das würde bedeuten, dass die Grenze zwischen Irland und Nordirland wandert. Das würde wiederum natürlich die Katholiken und die Nationalisten aufbringen.

Was dann dabei rauskommt, ist sehr offen. Es gibt durchaus Anhaltspunkte dafür, dass einige dann wieder den Weg der Gewalt wählen werden, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Das werden hoffentlich nur Einzelne sein, wenn überhaupt. Man kann nur hoffen, dass der Frieden erhalten bleibt. Aber wenn der Eindruck ist, dass mit Gewalt politische Ziele erreicht werden können, dann könnte die Gewalt tatsächlich wieder zurückkehren.

Insofern ist mit dem Brexit noch lange nicht alles erledigt. Das Nordirland-Problem hat man nicht gelöst. Viele Probleme sind weiter schwelend und könnten sich auch weiter zuspitzen.

Allerdings wird jemand, der das etwas anders als Johnson handhabt, möglicherweise doch ein etwas besseres Ergebnis erzielen können. Johnson war auch angesichts seiner zunehmend schwachen Stellung nicht mehr zuzutrauen, dass er was erreicht. Von daher ist ein Regierungswechsel wirklich absolut notwendig und auch ein Zeichen der Hoffnung. Garantien kann leider keiner geben.

Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.

Forderungen nach schneller Ablösung Johnsons werden lauter

Nach der Rücktrittsankündigung des britischen Premierministers Boris Johnson sind Forderungen nach seiner raschen Ablösung laut geworden. Johnson hatte am Donnerstag seinen Rücktritt als Parteichef der britischen Konservativen verkündet, will aber bis zur Wahl eines Nachfolgers noch Premierminister bleiben. Der Zeitplan und die genauen Rahmenbedingungen für die Wahl eines neuen Tory-Chefs sollen Anfang kommender Woche vom zuständigen Parteigremium, dem sogenannten 1922-Komitee, festgelegt werden.

 Boris Johnson geht zurück in die Downing Street 10, nachdem er eine Erklärung vorgetragen hatte, in der er offiziell seinen Rücktritt als Vorsitzender der Konservativen Partei erklärt hat. / © Gareth Fuller/PA Wire (dpa)
Boris Johnson geht zurück in die Downing Street 10, nachdem er eine Erklärung vorgetragen hatte, in der er offiziell seinen Rücktritt als Vorsitzender der Konservativen Partei erklärt hat. / © Gareth Fuller/PA Wire ( dpa )
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