Politologe Alfred Grosser mit 99 Jahren gestorben

Ansteckend gelebt

Er entstammt einer jüdischen Familie, nannte sich "christlich beeinflusster Atheist". Alfred Grosser hat viel über Identität nachgedacht. Jetzt ist der französische Politologe mit deutschen Wurzeln im Alter von 99 Jahren gestorben.

Autor/in:
Christoph Arens
Alfred Grosser (epd)
Alfred Grosser / ( epd )

"Man könnte verzweifeln..." hat Alfred Grosser in seinem 2017 erschienenen Buch "Le Mensch" mit Blick auf Gewalt, Hunger und Terrorismus geschrieben. Aber am Ende spricht der Autor auch von Hoffnung: "Man sollte hoffen, im Moment des Sterbens sagen zu können, ... dass man 'ansteckend gelebt' hat", zitiert der Atheist Grosser den Jesuitenpater François Varillon.

Am Mittwoch ist der Politologe und Pionier deutsch-französischer Verständigung im Alter von 99 Jahren in Paris gestorben, wie seine Familie am Donnerstag bestätigte. 1925 in Frankfurt am Main geboren, emigrierte Grosser 1933 mit seiner Familie nach Frankreich. Dem Vater, Professor für Kinderheilkunde, hatte das Hitler-Regime ein Lehrverbot auferlegt. Im Ersten Weltkrieg hatte Paul Grosser als Stabsarzt gedient und sich als Deutscher gefühlt. Er starb nur ein Jahr nach der Übersiedlung in Paris.

Kritischer Beobachter der Kirchen

Noch im hohen Alter hat Alfred Grosser in Vorträgen und bei Schulbesuchen Frankreich den Deutschen, den Deutschen die Franzosen und beide einander erklärt. Er war Aufklärer, Moralpädagoge und auch Prediger: Jeder Mensch habe unzählige Identitäten, analysiert er. Er sei Franzose durch und durch - trotz deutscher Herkunft. Und: "Ich bin ein jüdisch geborener, christlich beeinflusster Atheist", sagte er von sich selbst mit Augenzwinkern. Immer wieder präsentierte er sich deshalb auch als kritischer Beobachter der Kirchen.

Das Entscheidende sei, dass man seine eigenen Identitäten kritisch hinterfrage und sein Gegenüber nicht auf kollektive Identitäten festlege: die Engländer, die Juden, die Moslems, die Flüchtlinge, die Katholiken... Das "Die" werde missbraucht, um mit dem Finger auf andere zu zeigen, sie abzuwerten und einem "Wir" gegenüberzustellen. Man könnte auf diese Zuschreibungen gut verzichten, wenn man den Anderen schlicht als Menschen betrachten würde.

Ablehnung der Kollektivschuld

Nach Krieg und Politik- und Germanistikstudium begann Grosser, sich für die Aussöhnung der beiden Nachbarvölker zu engagieren. Noch 1948 gründete er ein Komitee, unter anderen mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre, das mit Brieffreundschaften und Besuchen einen Dialog in Gang bringen sollte. Später war er im deutschen TV ein gern gesehener Gesprächspartner, unter anderem im "Internationalen Frühschoppen" von Werner Höfer.

Die These von der Kollektivschuld der Deutschen lehnte er ab: "Nach der Befreiung von Marseille, im September 1944, stand ich am Krankenbett eines Freundes, der bei den Kämpfen verletzt worden war und zwei Tage später starb", erzählte er. "Ein Bett weiter lag ein gefangener und verletzter junger deutscher Soldat. Ich sprach viel mit diesem Altersgenossen (wir waren beide 19) und musste feststellen, dass er von dem Horror wirklich nichts wusste. Da entstand bei mir ein Gefühl der Mitverantwortung für seine Zukunft."

Nie den Widerspruch gescheut

Bis 1992 lehrte Grosser als Professor an der Pariser Elitehochschule Sciences Po. Rund 40 Bücher hat er veröffentlicht, darunter viele über Deutschland, Frankreich und Europa. 2014 hielt er im Bundestag die Gedenkrede zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 100 Jahre zuvor. Für seine Rolle als Mittler zwischen Deutschen und Franzosen wurde er vielfach geehrt. 1975 bekam er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2019 nahm ihn Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in die Ehrenlegion auf.

Widerspruch hat Grosser nie gescheut. So kritisierte er in den 70er Jahren den bundesdeutschen "Radikalenerlass", weil jede Überprüfung von Beamten auf Verfassungstreue zu Gesinnungsschnüffelei führen müsste. Und mit Frankreich ging er hart ins Gericht, weil in den Vororten ganze Generationen von Migranten in die Arme von Extremisten getrieben würden.

Umstritten waren auch seine Positionen zu Israel: In einer Gedenkstunde zur Erinnerung an die NS-Pogromnacht 1938 bekräftigte er 2010 in der Frankfurter Paulskirche seine kritische Haltung zur Besatzungspolitik in den Palästinensergebieten. 1978 hatte er deutlich gemacht, wie wenig wichtig ihm seine jüdische Abstammung im Rahmen seiner politisch-religiösen Überzeugungen sei: Er stehe an der Seite Israels, wenn es bedroht werde. Er wolle aber nicht darüber hinwegsehen, wie der jüdische Staat die Existenz der Palästinenser bedrohe.

Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag

Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der am 22. Januar in Aachen unterzeichnet wurde, soll den 56 Jahre alten Elysée-Vertrag ergänzen. Ziel ist, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in den Blick zu nehmen, etwa eine enge Abstimmung in der Europapolitik, Außen- und Sicherheitspolitik und in Wirtschaftsfragen. In deutschen Grenzregionen sollen sogenannte Eurodistrikte und Euroregionen entstehen sollen.

Emmanuel Macron und Angela Merkel nach Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags / © Oliver Berg (dpa)
Emmanuel Macron und Angela Merkel nach Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags / © Oliver Berg ( dpa )
Quelle:
KNA