DOMRADIO.DE: Was machen die Menschen in der Bibel denn alles aus Liebe?
Rainer Maria Schießler (Pfarrer und Buchautor): Es gibt keinen Bereich des Lebens, wo Liebe nicht zur Sprache kommt und wir in den Kirchen sprechen wohl am meisten davon. Einer, der uns den Weg weist, ist sicherlich der Evangelist Johannes. Für ihn ist Liebe nämlich ein anderes Wort für Gott. Du kannst überall im ganzen Johannes-Evangelium, wo Gott ausgedrückt wird, das Wort “Liebe” einsetzen und da bist du genau auf dem richtigen Weg. Ich habe mich orientiert an “Glaube, Hoffnung, Liebe” aus dem Korinther Brief von Apostel Paulus. Wo er am Schluss feststellt: Und die Größte unter ihnen ist die Liebe.
DOMRADIO.DE: Wo sind sie in der Bibel auf die Liebe getroffen?
Schießler: Ich habe mich an Gary Chapman (US-Pastor und Paarberater) und seine fünf Sprachen der Liebe orientiert. Er sagt, dass Liebe nicht uniform ist, sondern sie kennt verschiedene Ausdrucksweisen und Sprachen. Jeder Mensch kennt diese, aber kein Mensch beherrscht all’ diese Sprachen. Vielleicht ist der eine gut im Komplimente machen, der andere ist gut im Zuhören oder im Zeit schenken und so weiter. Aber es gibt einen - und das ist vielleicht meine große Erkenntnis in dem Buch - der alle beherrscht und das ist der liebe Gott. Den Beweis dafür, den finde ich in der Heiligen Schrift.
DOMRADIO.DE: Es gibt die Liebe zum Partner, zur Natur, zu Gott, zu sich selber oder zum Feind. Wo kann ich mir in der Bibel etwas abgucken?
Schießler: Ich muss mir gar nichts abgucken. Das ist in mir drin. Jeder muss das für sich selber rausfinden. Man kann sich fragen: Wo bin ich gut?
Wenn eine Frau nach 50 Jahren Ehe zu mir kommt und sagt, dass ihr Ehemann ein wirklich guter Mann war, aber seine Schwächen hatte. Dann sind wir genau in dieser Sprache drin. Er hat sie eigentlich immer auf Händen getragen, ihr alles abgenommen und war hilfsbereit. Hilfsbereitschaft ist eine Ausdrucksform der Liebe. Auf der anderen Seite war er kein zärtlicher Liebhaber. Das heißt: Ihr Ehemann ist gut, beherrscht aber nicht alle Sprachen. Ich finde, das ist eine riesige Trostbotschaft für uns.
DOMRADIO.DE: Warum ist das für sie eine tröstende Botschaft?
Wir leben in einer Welt, in der alles perfekt sein soll. Aber der Begriff Perfektion kommt in der Bibel nicht vor, sondern der Begriff der Vollkommenheit. Und Vollkommenheit heißt Fülle. Und da ist alles drin: Das, was gelingt, und das, was nicht gelingt. Was ist die schönste Form der Liebe? Das Tolerieren, Aushalten oder wie Paulus sagt: Die Liebe trägt alles, hofft alles, glaubt alles, hält allem Stand. Das ist der wichtigste Punkt, mit dem ich Ehepaare, die in einer Krisensituation sind, vielleicht ermutigen, trösten und stützen kann. Wenn ich sage: "Ihr seid nicht schlechter als die anderen, die ständig glücklich sind. Ihr seid jetzt gerade dort, wo ihr euer Versprechen abgegeben habt: in guten und in bösen Tagen."
DOMRADIO.DE: Wo finde ich in der Bibel denn eine Anleitung bei Liebeskummer?
Schießler: Jesus hat sich denen, die in Not waren, in besonderer Weise zugewandt. Wenn ich Liebeskummer habe, ist es ja so, dass ich das Gefühl habe, die ganze Welt wendet sich von mir ab. Ich bin völlig allein. Niemand interessiert sich für mich. Ich kann aber die Erfahrung machen, dass da einer ist, der sich nie von dir abwenden wird. Das ist der Beginn einer neuen Kraftquelle, auch zur Rettung meiner eigenen Würde und meines eigenen Selbstbewusstseins.
Die Texte, die ich in diesem Buch hinterfrage, hören wir jeden Sonntag in unseren Kirchen. Ich habe die ganz normalen Texte genommen, auf die ich immer stoße, wenn ich in die Kirche gehe.
DOMRADIO.DE: Der Band über die “Liebe” ist nach “Glaube” und “Hoffnung” der Letzte ihrer Trilogie. Es ist ihr insgesamt elftes Buch. Ist das Buch über die Liebe der wichtigste?
Schießler: Nein, alle drei sind wichtig. So wie Paulus auch sagte: Glaube, Hoffnung, die größte unter ihnen ist die Liebe. Es ist für mich wie ein berühmter Nierentisch aus den 60er Jahren mit den drei Beinen: Wenn ein Bein fehlt, dann fällt das Ding um. Die Unterscheidung, die Paulus macht, ist, dass er sagt, Glaube und Hoffnung seien innerweltliche Eigenschaften.
Jetzt muss ich glauben oder jetzt kann ich glauben. Wenn ich vor Gott stehe, muss ich nicht mehr glauben. Jetzt darf ich hoffen. Ich hoffe bei schlechtem Wetter, dass der Bus kommt. Wenn der Bus kommt, steige ich ein und muss nicht mehr hoffen.
Aber die Liebe, die Kraft der Liebe, ist ein Brückenschlag über das Vergängliche in die Unvergänglichkeit hinein. Mit der Liebe habe ich sozusagen schon den Griff ins Jenseits gemacht. Nelson Mandela hat gesagt: Kein Mensch wird mit Hass im Herzen geboren.
Das Interview führte Heike Sicconi.