Kölner Stadtdechant Kleine mit Ausblick für 2022

"Nichts ist sicher, doch Gottes Zusage an die Menschen gilt"

Im vergangenen Jahr hat nicht nur Corona das Leben vieler Menschen auf der ganzen Welt auf den Kopf gestellt. Auch die Katholische Kirche stand vor Zerreißproben. Ein Gastbeitrag des Kölner Stadtdechanten Msgr. Robert Kleine.

Symbolbild Hoffnung, Segen / © Love You Stock (shutterstock)
Symbolbild Hoffnung, Segen / © Love You Stock ( shutterstock )

Wie gerne würden wir heute schon wissen, was uns im Jahr 2022 alles erwartet. Das entspricht dem normalen Verlangen der Menschen, dass wir doch sehr gerne in die Zukunft schauen möchten. Zukunftsforscher haben seit der Mitte des letzten Jahrhunderts mit Statistiken, Trendberichten und Zukunftswerkstätten versucht, den Gang der Menschheitsgeschichte vorherzusehen. Aber inzwischen überwiegt folgende Erkenntnis: Die Welt wird von Überraschungen, so genannten "Wild Cards" bestimmt, so dass die einzige Sicherheit die "Unsicherheit" ist.

Den Begriff "Wild Cards" haben sich US-Forscher von den "Jokern" im Kartenspiel ausgeliehen. Der Begriff entstand in den 90er-Jahren, als plötzlich für alle unerwartet die Mauer fiel und quasi über Nacht der Ostblock zusammenbrach. "Wild Cards" sind also jene überraschenden Querschläger, die unsere Welt abrupt auf den Kopf stellen und Entwicklungen in eine gänzlich unerwartete Richtung lenken. Im vergangenem Jahr hat es so einige "Wild Cards" gegeben.

Corona prägt die Menschen weiterhin

Die Nr. 1 bleibt sicherlich Corona. Weiterhin haben Unsicherheit, Angst, wirtschaftliche und gesundheitliche Sorgen, Einsamkeit und Isolation weltweit den Alltag der Menschen geprägt. Die Pandemie und ihre Einschränkungen haben uns in den vergangenen zwölf Monaten weiter begleitet. Nach der Zulassung des Impfstoffs und den begonnenen Impfungen hofften wir vor einem Jahr alle, dass sich unser Leben wieder normalisiert.

Und jetzt, ein Jahr später? Booster-Impfung, Impfverweigerer, 3G, Omikron-Variante, 2Gplus, erneute Absage vom traditionellen Sternsinger-Besuch zu Hause, von Veranstaltungen und dem Rosenmontagszug, Kontaktbeschränkungen, weiterhin Infizierte, Erkrankte und Verstorbene, wieder der Blick auf Intensivbetten – und die Befürchtung, dass es zumindest in den nächsten Wochen nicht besser wird. Und für danach hofften wir natürlich alle, dass sich unser Leben wieder normalisiert – was immer das heißen mag.

Politische Ereignisse in 2021

"Wild Cards" waren in 2021 außerdem in Folge der Pandemie und nach der Havarie eines Schiffes im Suez-Kanal Lieferengpässe, der vor einem Jahr vollzogene Brexit, die Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan - und ganz in unserer Nähe die Flutkatastrophe, mit so vielen Toten und mit unzähligen Menschen, deren Existenzgrundlage zerstört wurde. 

"Wild Cards" sind überraschende Ereignisse, Katastrophen oder gesellschaftliche Umbrüche, die unsere Zukunft stärker bestimmen, als jeder Regierungswechsel. Die Herausforderungen im Miteinander unserer Gesellschaft bleiben kleinere oder größere "Wild Cards", von denen wir nicht wissen, wie sie ausgespielt werden und welche Folgen sie für unsere Gesellschaft haben werden: Polarisierungen, spalterische Tendenzen und Zerwürfnisse, nicht nur in unserer Parteienlandschaft, sind noch offener zutage getreten: Querdenker und Reichsbürger, Beschimpfung unserer freiheitlichen Demokratie als "Diktatur", gewaltbereite Demonstranten am rechten und linken Rand, offener Antisemitismus und Rassismus, Hass und asoziale Hetze in den sogenannten Sozialen Medien. 

Katholische Kirche in der Kritik

Auch die Katholische Kirche stand im vergangenen Jahr weiterhin in der Kritik, international, national und vor allem auch lokal. Und die meiste Kritik ist berechtigt, manchmal ist sie überzogen. Sie bedrückt und zermürbt, macht viele Gläubige, Haupt- und Ehrenamtliche müde und zugleich wütend, wie es neudeutsch heißt, einfach "mütend".

Seit dem Bekanntwerden der ersten Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland vor über zehn Jahren und spätestens seit der Veröffentlichung der von der DBK (Deutschen Bischofskonferenz) in Auftrag gegebenen MHG-Studie im Jahr 2018 ist erwiesen, dass in den vergangenen Jahrzehnten, auch in Deutschland und in unserem Erzbistum, Priester und andere Mitarbeiter der Kirche, Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht haben. Das sind furchtbare Verbrechen, für die die Täter mit aller Härte des weltlichen und kirchlichen Rechts zur Verantwortung gezogen werden mussten, beziehungsweise müssen. Dabei muss die Aufmerksamkeit der Kirche in erster Linie den von sexualisierter Gewalt Betroffenen gelten, wobei alles getan werden muss, um zu verhindern, dass sich diese instrumentalisiert fühlen.

Unser Erzbischof hat nach seinem Amtsantritt einen sehr wichtigen Schritt getan, indem er von einer unabhängigen Münchener Kanzlei untersuchen ließ, ob die Erzbischöfliche Behörde systemisch oder gar systematisch die Missbrauchsfälle und die Täter nicht oder nicht konsequent genug verfolgt und den stattlichen und kirchlichen Strafverfolgungsbehörden gemeldet hat. Dann kam es zunächst zur Verschiebung der Veröffentlichung des Münchener Gutachtens, daraufhin zu ersten Vertuschungsvorwürfen, später zur Nicht-Veröffentlichung sondern Neubeauftragung einer anderen Kanzlei, zu einer unglückliche Entschuldigung des Erzbischofs, zu viel misslungener Kommunikation, schließlich am 18. März zur Präsentation dieses Gutachtens. In deren Folge gab es die sofortige Entbindung von Ämtern, Rücktrittsangebote an den Hl. Vater, eine Apostolische Visitation, die Wiedereinsetzung von Weihbischöfen, eine Auszeit für den Erzbischof und die Ernennung eines Apostolischen Administrators. Jeder Punkt für sich schon eine "Wild Card".

Hinzu kommen nun noch die veröffentlichten hohen Kosten für die zwei Gutachten und für eine Kommunikationsberatung, generelle Fragen zu kirchlichen Finanzen, Strukturfragen im Rahmen des Pastoralen Zukunftsweges und Reformerwartungen, wobei klar ist, dass nicht alle Wünsche nach Reformen, zum Beispiel auf dem Synodalen Weg, in gleicher Weise und nach den jeweiligen Vorstellungen eine Umsetzung erfahren werden.

Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise

Alles zusammen führte zu einer Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise der Kirche, die sich in extremen Austrittszahlen – gerade auch in Köln – ausdrückt. In einer gewissen Spannung zu leben, die eigene Kirche ständig in der öffentlichen Kritik zu sehen, das tut weh, das war, das ist anstrengend, zumal die Verantwortlichen oft dafür die Steilvorlagen lieferten. Da waren 2021 also wirklich viele "Wild Cards" im Spiel… Wobei diese plötzlichen Störungen durch "Wild Cards" nicht unbedingt immer nur Angst und Furcht auslösen, sondern auch positive Wirkungen haben können.

Das kann auch für unsere Kirche gelten: Indem wir sensibler werden für die Menschen mit ihren Freuden und Sorgen. Indem wir versuchen, wieder glaubwürdig den Weg der Nachfolge Jesu zu gehen, der ohne Machtgehabe und Amtsgewalt zu den Menschen gegangen ist. Indem wir in einen neuen Dialog mit den Menschen eintreten, indem wir zunächst einmal zuhören und versuchen, die Position des anderen zu verstehen, Ich habe es vor einiger Zeit in einer Predigt so ausgedrückt: "Eine hilfreiche, solidarische Kirche an ihrer Seite zu erleben – wäre das nicht eine tolle Erfahrung für die Menschen? Die künftige Gestalt von Kirche hängt davon ab, ob sie ihre Tür einladend für die Menschen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen und Lebensformen öffnen wird. Oder ob sie weiter Türen zulässt oder zustößt, um sich in einer Art Wagenburgmentalität von der Realität der Menschen und damit auch von den Menschen selbst abzuschotten."

Positives Engagement in der Kirche

Und es gibt so viele Menschen, die schon heute konkret Türen in der Kirche öffnen: Im Engagement in der Caritas, in der Liturgie und in der Sakramenten-Vorbereitung, in der Hilfe für Geflüchtete und Obdachlose, in der Bildungsarbeit für Familien und Erwachsene, in der Sorge um Kranke und Einsame, in den Gremien unserer Gemeinden und Pfarreien, als Hauptamtliche und Ehrenamtliche. All denen gilt mein besonderer und aufrichtiger Dank als Stadtdechant!

Nur schade, dass all dieses kirchliche Engagement allzu oft von Menschen, die der Kirche kritisch gegen-überstehen oder gar kirchenfern sind, zu wenig wahrgenommen wird, ja durch die Missstände und Skandale überdeckt wird. Denn gerade in diesem vielfältigen Engagement für die Menschen und für unser Gesellschaft zeigt sich ja, dass Kirche noch einmal mehr ist und eben nicht bloß eine Summe von Fehlleistungen, an denen man sich extern abarbeiten kann und an denen man intern leidet bis zur Verzweiflung. In all den Menschen, die Gutes tun, in jedem Gläubigen, in all dieser Arbeit für Gott und den Nächsten verwirklicht sich Kirche.

Persönliche Ereignisse

Sicherlich gab es auch bei dem einen oder anderen von uns eine "Wild Card", ein unvorhersagbares Ereignis, das unser Leben und unsere Zukunft auf den Kopf gestellt hat. Da können Beziehungen auseinander gegangen sein, Freundschaften, die wegen eines Streits zerbrochen sind, da kann eine schlechte Diagnose beim Arzt das Leben umkrempeln oder auch die finanzielle Existenz kann bedroht worden sein, wenn man plötzlich seinen Arbeitsplatz verliert. 

Aber sicherlich gab es auch das eine oder andere positive Ereignis, dass das Leben gänzlich verändert hat: So hat mancher vielleicht einen netten Menschen kennen gelernt, Paare erwarten nach Jahren der Kinderlosigkeit ein Kind und vielleicht hat der eine oder andere auch trotz wirtschaftlicher Lage positive Veränderungen im Beruf erfahren.

Welche "Wild Card" wir auch immer im privaten, gesellschaftlichen und kirchlichen Leben gezogen haben und welches überraschende Ereignis im neuen Jahr auf uns zukommen wird, wir können gewiss sein, dass Gott uns durch alle positiven und negativen Ereignisse im Leben und in der Gesellschaft hindurch begleiten wird.

"Gott ist treu"

Gott ist treu und er gibt uns zum Beginn des neuen Jahres die Zusage aus dem Alten Testament, aus dem Buch Numeri: "Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden. "Ich denke, dass dies sicherlich ein sehr hoher Anspruch an unseren Glauben und an unser Gottvertrauen ist, dass wir uns nicht ängstigen und fürchten sollen, aber vielleicht können wir im neuen Jahr Schritt für Schritt lernen, Gott zu vertrauen.

Lebt Gott in uns, dann können wir auch dunkle Stunden, schlechte Tage und so manche "Wild Card" in den großen und kleinen Katastrophen und Dingen des Alltags und des Lebens überstehen. Denn Gott ist mit uns und Gott ist in uns. Wir können deshalb gewiss sein: Gott schenkt uns Kraft und Hilfe und er will unser Heil auch im vor uns liegenden neuen Jahr!

Nichts Anderes feiern wir doch in der Weihnachtszeit. Wir feiern das Leben. Wir feiern, dass uns das Leben geschenkt worden ist, in Jesus Christus sogar neu geschenkt wurde; ein Leben, das auch angesichts aller Bedrohung durch die Pandemie oder anderer Schatten voller Hoffnung sein darf. Wir feiern das Geschenk des Lebens, zu dem Gott gerade mit seiner Menschwerdung unwiderruflich Ja sagt, beginnend bei der Krippe und über das Kreuz als Brücke in den Himmel hinein.

Das Virus hat uns die Planbarkeit und Kontrolle für uns und unsere Lebensentwürfe an vielen Stellen entzogen. Wir sind mehr denn je auf uns zurückgeworfen. An die Stelle von Selbstbehauptung und Selbstermächtigung treten Unsicherheit und Verletzlichkeit. Umso wichtiger und richtiger ist es für uns, auf den schauen zu können, der Beständigkeit und Zukunft in unser Leben bringt:
"Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden." 

Msgr. Robert Kleine, Stadtdechant von Köln

(Dieser Text wurde in leicht abgeänderter Form in seiner Predigt zum Jahreswechsel vorgetragen)

 

Msgr. Robert Kleine / © Nicolas Ottersbach (DR)
Msgr. Robert Kleine / © Nicolas Ottersbach ( DR )
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