Behindertenhilfe macht konkrete Vorschläge zum Triage-Urteil

Nicht Ärzte allein sollen entscheiden

Soll in Zukunft der Zufall entscheiden, wer bei knappen Krankenhauskapazitäten behandelt wird? Oder die Reihenfolge der Einlieferungen? Die Caritas-Behindertenhilfe begrüßt, dass der Bundestag sich mit dieser Frage beschäftigen muss.

Eine Person im Rollstuhl wird im Krankenhaus untersucht / © AnnGaysorn (shutterstock)
Eine Person im Rollstuhl wird im Krankenhaus untersucht / © AnnGaysorn ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Gesetzgeber "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz von Behinderten im Fall einer pandemiebedingten Triage treffen muss. Gab es denn bislang Fälle, von denen Sie gehört haben, dass eine Benachteiligung behinderter Menschen stattgefunden hat?

Wolfgang Tyrychter (Vorsitzender des Fachverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP)): Wir haben aus unseren Mitgliedseinrichtungen des Öfteren, insbesondere jetzt in der vierten Welle gehört, dass von den Rettungsdiensten, von den Notärzten, von den Intensivmedizinern über überforderte Systeme und Krankenhausbetten, die nicht mehr vorhanden sind, geklagt wurde. Bekannt wurde bundesweit ein Fall im Landkreis Tuttlingen, bei dem schriftlich durch den dortigen Krankenhausträger aufgefordert wurde, dass Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und Menschen im Alter doch bitte genau überlegen sollen, für welchen Patienten man denn den Notarzt rufe und damit Intensivkapazitäten anfrage. So konkret wurde es und sogar schriftlich belegbar.

DOMRADIO.DE: Jetzt soll der Bundestag Vorkehrungen beschließen, die Menschen mit Behinderungen besser schützen. Ist das nicht vom Grundgesetz nicht schon vorgegeben?

Tyrychter: Der zweite Absatz des zweiten Artikels des Grundgesetzes besagt das so. Aber die konkrete Umsetzung in einer Pandemie, wie wir sie derzeit seit 21 oder 22 Monaten erleben, ist unklar. So eine Situation war zumindest seit Bestehen der Bundesrepublik noch nicht vorhanden. Deswegen bedarf es einer konkreten gesetzgeberischen Maßnahme.

DOMRADIO.DE: Wie könnten Vorkehrungen aussehen, die der Bundestag beschließen kann?

Tyrychter: Entscheidend ist, dass die Entscheidung bei begrenzten Krankenhauskapazitäten nicht allein bei den behandelnden Ärzten, aber auch nicht zum Beispiel in Alten- und Pflegeheimen oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen liegt. Das heißt, dass der Gesetzgeber und die Politik sich jetzt sich mit der Frage befassen muss. Dazu gehört zum einen, dass die Überlastung des Gesundheitssystems im Vorfeld vermieden wird. Das ist eine der allerwichtigsten Maßnahmen, damit die Triage als solche gar nicht stattfinden muss.

Ein zweiter Punkt könnte aus unserer Sicht sein, dass möglichst schnell ein Expertenkreisen einberufen wird, an dem sich Menschen mit Behinderungen, Ärzte, Intensiv- und Notfallmediziner, aber eben auch Juristen beteiligen, um zusammen mit politischen Mandatsträgern mögliche Prinzipien einer Entscheidung diskutieren. Da gibt es verschiedene: Man kann danach gehen, dass der zuerst behandelt wird, der zuerst ankommt. Oder man kann eine Zufallsauswahl treffen. Entscheidend ist, dass das jetzt politisch und gesetzgeberisch diskutiert wird. Das hat bisher nämlich nicht stattgefunden.

DOMRADIO.DE: Damit diese Regelung schon bald greifen kann, muss es schnell gehen. Wie wahrscheinlich ist das denn?

Tyrychter: Das es sehr schnell geht, halten wir für nicht sehr wahrscheinlich. Allerdings sind wir bereit unseren Beitrag zu leisten, dass es schnell gehen kann. Die heutige Entscheidung zeigt ja - und das ist ja auch formuliert in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts -, dass das Bestehen einer Pandemie jetzt zum schnellen Handeln führen muss. Deswegen gehen wir davon aus, dass so ein Expertenkreis zügig und zeitnah zu Beginn des neuen Jahres einberufen wird, der sich mit den Fragen befasst. Wir wissen alle: die Mühen des Gesetzgebers mahlen an sich langsam. Aber die Pandemie, die uns wohl noch eine Zeit lang begleiten wird, erfordert schnelles Handeln. Man sieht es auch bei Debatten wie der Impfpflicht, dass es doch schnell gehen kann.

DOMRADIO.DE: Was ist denn aus Ihrer Sicht mit diesem Urteil erreicht?

Tyrychter: Erreicht ist aus unserer Sicht - und das ist das Gute daran -, dass die Tatsache vom höchsten deutschen Gericht gesehen wird, dass hier eine Entscheidungssituation im Raum steht über die Behandlung von Menschen bei knappen Ressourcen, für die es noch keine politisch gesetzgeberisch geleiteten Kriterien gibt. Die Beteiligten, zum einen die Ärzte, aber auch die Betroffenen, Menschen im Alter, Menschen mit Behinderung, psychischen Erkrankungen oder auch anderen Merkmalen darf man nicht allein lassen. Das ist erreicht. Die Politik muss sich damit jetzt befassen. Der Gesetzgeber muss die Frage genau betrachten und hat einen klaren Handlungsauftrag. Die Frage wird gesehen und das Problem wird betrachtet.

Das Interview führte Tobias Fricke.


Quelle:
DR