Neues Buch über Verhältnis von Judentum und Islam

Hat der Islam ein Antisemitismusproblem?

Warum ist Antisemitismus unter Muslimen weitverbreitet? Gibt es antijüdische Denkmuster schon im Koran? Der muslimische Theologe Mouhanad Khorchide hat ein Buch darüber geschrieben und plädiert für eine theologische Wende.

Autor/in:
Ina Rottscheidt
Ein Imam hält einen Koran in den Händen. / © Hauke-Christian Dittrich (dpa)
Ein Imam hält einen Koran in den Händen. / © Hauke-Christian Dittrich ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie zitieren in Ihrem neuen Buch "Ohne Judentum kein Islam"  Studien, denen zufolge in muslimisch geprägten Ländern über 90 Prozent der Menschen eine negative Meinung über Juden haben. Es gibt eine wissenschaftliche Diskussion darüber, ob der Antisemitismus quasi im Islam angelegt ist oder ob er über die Jahrhunderte durch politische Ideologien und importierte Verschwörungsmythen geprägt wurde. Gibt es denn im Koran Aussagen, die die Juden eindeutig diskreditieren? 

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (l) (Leiter Zentrum für Islamische Theologie ZIT) unterhält sich mit Prof. Dr. Levent Tezcan, Professor für sozialwissenschaftliche Erforschung des Islam. Sie stellen eine Studie über Radikalisierungsprozesse von Muslimen in Deutschland vor.  / © Guido Kirchner (dpa)
Prof. Dr. Mouhanad Khorchide (l) (Leiter Zentrum für Islamische Theologie ZIT) unterhält sich mit Prof. Dr. Levent Tezcan, Professor für sozialwissenschaftliche Erforschung des Islam. Sie stellen eine Studie über Radikalisierungsprozesse von Muslimen in Deutschland vor. / © Guido Kirchner ( dpa )

Prof. Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster): Es gibt im Koran Aussagen wie beispielsweise: "Die Juden sind den Muslimen gegenüber feindlich eingestellt". Aber die Frage, die sich daraus ergibt ist doch: Sind damit alle Juden zu allen Zeiten gemeint? Oder eine konkrete Gruppe, die damals im 7. Jahrhundert im Konflikt zu Mohammed stand? 

Und genau das gilt es innerislamisch zu klären: Es gibt Muslime, die diese Aussagen als überzeitliche, ahistorische Aussage verstehen. Und es gibt Auslegungen, die das als situativ verstehen, denn es gibt auch Textstellen im Koran, die Juden lobend erwähnen und ihnen die ewige Glückseligkeit versprechen. Das ist wie eine Trennlinie innerhalb des Islams, ob man den Koran überzeitlich liest oder ihn historisch verortet. 

Mouhanad Khorchide

"Es gibt Grundlagen in den Primärquellen, die als antijüdisch interpretiert werden können." 

DOMRADIO.DE: Also alles eine Frage der Auslegung? 

Khorchide: Die Charta der Hamas von 1988 beruft sich auf den Koran und zitiert den Hadith [Anm. der Red.: Überlieferungen über die Aussagen und Taten von Mohammed], dem zufolge Mohammed angeblich gesagt haben soll, am Jüngsten Tag würden die Muslime alle Juden vernichten und selbst jeder Baum werde die Muslime dazu aufrufen, den sich dahinter versteckenden Juden zu töten. Das heißt, es gibt Grundlagen in den Primärquellen, die als antijüdisch interpretiert werden können. 

Darum gehe ich auch in meinem Buch auf diese Wissenschaftskontroverse ein: Es gibt Vertreter, die sagen, es gebe keinen islamischen Antisemitismus sondern nur "islamisierten Antisemitismus", der primär durch politische Ideologien und importierte Verschwörungsmythen geprägt ist, aber nicht im Kern der islamischen Lehre entspringt. Dem gegenüber stehen wissenschaftliche Meinungen, die überzeugt sind, dass es sehr wohl einen originär islamischen Antisemitismus gebe, der in Teilen der islamischen Tradition, Kultur oder aktuellen Religionsauslegung verwurzelt ist und nicht bloß die Übernahme europäischer Ideologien. 

Mouhanad Khorchide

"Es gibt einen islamisch begründeten Antisemitismus, aber der Islam ist nicht essentiell antisemitisch."

DOMRADIO.DE: Welche Position vertreten Sie?

Khorchide: Keine der beiden: Ein "islamischer Antisemitismus" impliziert, dass der Judenhass dem Islam quasi immanent sei. So ist es nicht, sondern es ist – wie ich gesagt habe – eine Frage der Interpretation. Ich finde aber die Position des "islamisierten Antisemitismus" die schwächere, weil sie behauptet, der Antisemitismus habe keine Grundlagen im Islam. Das stimmt historisch nicht und es hat zur Folge, dass man sich nicht mehr mit den Quellen und Anfängen beschäftigt und es als ein westliches Problem abtut. Das ist eine passive Haltung, die sich der Auseinandersetzung mit dem Problem verweigert. Darum sympathisiere ich eher mit der Position, die sagt: Es gibt einen islamisch begründeten Antisemitismus, aber der Islam ist nicht essentiell antisemitisch, sondern es hängt immer von den Muslimen ab, die ihn interpretieren. 

DOMRADIO.DE: Wenn man die Bilder von – aus aktuellem Anlass - propalästinensischen Demonstrationen sieht, bei denen junge Muslime antisemitische Parolen skandieren, hat man aber nicht den Eindruck, dass es sich um besonders religiöse Menschen handelt…. 

Khorchide: Genau. Und das ist auch das Hauptanliegen des Buches: Ich möchte zeigen, dass antijüdische oder antisemitische Einstellungen unter Muslimen nicht auf theologischem Wissen basieren, sondern auf verinnerlichten, religiös überformten Großerzählungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten oder Jahrhunderten herausgebildet haben. Diese Menschen sind nicht in der Lage, ihre Vorurteile religiös zu begründen oder Textstellen im Koran zu benennen. Aber sie sind geprägt durch diese Großerzählungen, die die kollektive Identität vieler junger Musliminnen und Muslime prägen – oft unausgesprochen, nicht reflektiert, aber tief verankert. 

Mouhanad Khorchide

"Zu meiner Überraschung hatte niemand den Koran gelesen oder sich mit religiösen Texten auseinandergesetzt."

DOMRADIO.DE: Sie gehen im Rahmen von Präventionsprojekten in Justizvollzugsanstalten und treffen junge radikalisierte Muslime, die tatsächlich auch bereit gewesen wären, terroristische Anschläge im Namen ihrer Religion zu verüben. Wie religiös gebildet sind denn diese Männer? 

Khorchide: Das hat mich selbst auch überrascht, denn ich ging mit meinem Koran in die Gespräche, um mich theologisch mit ihnen und ihren Argumenten auseinanderzusetzen. Aber zu meiner Überraschung hatte niemand von denen den Koran gelesen oder sich mit religiösen Texten auseinandergesetzt. Aber sie hat diese Erzählung "Ich muss den Islam verteidigen" erreicht, vor allem über Social Media und hinterfragt haben sie das nicht. Sie waren nicht in der Lage, das theologisch zu begründen. 

Meiner Meinung muss man genau da ansetzen und diesen Positionen positive Erzählungen entgegenstellen, zum Beispiel, dass es uns Muslimen in Deutschland und Europa ziemlich gut geht. Denn wenn man die Jugendlichen nach konkreten Diskriminierungserfahrungen fragt, müssen sie oft lange nachdenken. Aber sie sind überzeugt, dass die Gesellschaft rassistisch ist, sie sind geprägt von Erzählungen und nicht von den eigenen Erfahrungen, die sie gemacht haben. Und so verhält es sich auch mit dem Antisemitismus: In den meisten Fällen hatten die radikalisierten Jugendlichen niemals persönlich einen Juden oder eine Jüdin kennengelernt, aber sie sind überzeugt davon, dass sie böse sind. 

DOMRADIO.DE: Diese Vorurteile nennen Sie in ihrem Buch "Großerzählungen", weil sie im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Welche antijüdischen Großerzählungen gibt es denn unter Muslimen und Musliminnen? 

Khorchide: Zum Beispiel die Korruption in der islamischen Welt: Sie ist angeblich das Ergebnis einer „jüdischen Lobby“ in den USA, die nur darauf abzielt, in den islamischen Ländern korrupte Regime zu installieren, um den Islam von innen zu unterwandern und die Länder wirtschaftlich auszubeuten und an das Öl heranzukommen. Diese Erzählung ist sehr stark verbreitet. 

Die einflussreichste erzählt die Geschichte von Muslimen und Juden als ewige Feinde: Sie beginnt mit den Auseinandersetzungen zwischen Mohammed und einigen jüdischen Stämmen, zieht sich über den Sechs-Tage-Krieg in Israel 1967 bis zum heutigen Nahostkonflikt. Diese Großerzählung ist in vielen muslimischen Ländern Teil der Staatsraison, wie man im Krieg mit dem Iran sehen konnte. Sie bietet einfache Erklärungen für kollektive Erfahrungen von Demütigung oder Ohnmacht und formt so ein identitätsstiftendes Feindbild. Entscheidend ist, ob es gelingt, eine wirkungsvolle Gegenerzählung zu etablieren – eine Erzählung, die für Empathie, Respekt und Solidarität gegenüber dem Judentum steht. 

Mouhanad Khorchide

"Moses ist die Figur, die uns von Beginn an begleitet, wenn wir den Koran chronologisch lesen, er wird in 40 von 114 Suren erwähnt."

DOMRAIO.DE: Sie plädieren in ihrem Buch dafür, diese Großerzählungen zu verändern, um den Antisemitismus unter Muslimen zu bekämpfen. Gibt es denn auch positive Narrative im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Muslimen und Juden?

Khorchide: Ja. Zum Beispiel hat sich der Prophet Mohammed immer wieder auf Moses berufen, nicht etwa auf Abraham, wie man vielleicht denken könnte. Moses ist die Figur, die uns von Beginn an begleitet, wenn wir den Koran chronologisch lesen, er wird in 40 von 114 Suren erwähnt. Vieles von dem, was er verkündet, ist in den Botschaften Mohammeds wiederzufinden. Und als dieser nach Medina zog, um seine Anhänger zu retten, berief er sich auf den Exodus: "Wie Moses die Israeliten gerettet hat, werde ich euch auch retten!" Die Erzählung von Moses spielt eine wichtige Rolle für die Legitimation der Verkündigung durch Mohammed. 

Und warum ausgerechnet Moses? - Weil die Idee des Monotheismus in jeder Zeit in Mekka und Medina nicht in erster Linie durch das Christentum, sondern durch das Judentum verbreitet wurde. Darum habe ich mein Buch "Ohne Judentum kein Islam" genannt: Ohne Moses hätte Mohammed kein Vorbild gehabt und ohne den Rückgriff auf jüdische Traditionen hätte sich der Islam sicher nicht dauerhaft etablieren können: Die Muslime haben lange Zeit Richtung Jerusalem gebetet, die rituellen Reinheitsgebote und Fastenvorschriften oder das Verbot von Schweinefleisch: Das alles wurde übernommen. Das ist ein Beispiel für eine positive Großerzählung: Ohne Judentum kein Islam. Im Judentum liegen nicht nur unsre Wurzeln, sondern es ist die existenzielle Voraussetzung für den Islam. 

Wenn man der Botschaft Mohammeds also gerecht werden will, muss man das Judentum schützen und als existenzstiftend wertschätzen. Das müsste eine unserer wichtigsten muslimischen Großerzählungen sein. Mein Ziel ist die Entwicklung einer islamischen Theologie, die jüdisches Leben als göttlich gewollt versteht und hilft, antisemitische Narrative aktiv zu dekonstruieren.

DOMRADIO.DE: Gibt es dafür offene Ohren in der muslimischen Welt oder machen Sie sich damit eher unbeliebt? 

Khorchide: Meiner Erfahrung nach sind viele – auch unter meinen Studierenden – dankbar für Auswege und lösungsorientierte Interpretationen, die zum Frieden beitragen. Das ist angesichts der aktuellen Konflikte im Nahen Osten wichtiger denn je. Wirtschaftlich und politisch haben Annäherungen durch die Abraham-Abkommen [Anm. der Red.: Abkommen über diplomatische Annäherungen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko, die 2020 unterzeichnet wurden.] begonnen, aber es braucht auch theologische Legitimationen. Und viele sind dankbar, wenn sie sehen, es gibt authentische theologische Auslegungen, die das möglich machen. 

Natürlich wird es auch die geben, die sagen: Die Juden sind unsere ewigen Feinde und das ist alles Häresie. Aber ich mache die Erfahrung, dass immer mehr Muslime dankbar sind, wenn man aus dem Islam heraus argumentiert und sagt: Es gibt Lösungen. Damit wir nicht nur immer nur über Probleme reden.  

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Religion ist oft nicht Grund für Antisemitismus

Antisemitismus unter Musliminnen und Muslimen in Deutschland ist einer Untersuchung zufolge häufig eher eine Folge konservativ-autoritärer Einstellungen als der Religion an sich. Auch gebe es Hinweise, dass regionale beziehungsweise nationale Diskurse einen stärkeren Einfluss auf negative Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden hätten als religiöse Zugehörigkeit. So zeigten zum Beispiel auch Menschen christlichen Glaubens entsprechende Ressentiments.

Antisemitismus: Juden in Deutschland sehen wachsende Bedrohung / © Arne Dedert (dpa)
Antisemitismus: Juden in Deutschland sehen wachsende Bedrohung / © Arne Dedert ( dpa )
Quelle:
DR

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