"Wort zum Sonntag"-Pfarrer spricht über Flutkatastrophe

Mythos der Unverwundbarkeit

Die Flutkatastrophe hat Deutschland sprachlos hinterlassen. Die richtigen Worte versucht der Essener Pfarrer Gereon Alter zu finden. Er sagt: Nicht nur bei Krisen und Katastrophen sollten wir uns unserer Verwundbarkeit bewusster werden. 

Pfarrer Gereon Alter (privat)
Pfarrer Gereon Alter / ( privat )

DOMRADIO.DE: Was hat Sie denn in den vergangenen Tagen so erschüttert, dass Sie gesagt haben "Da will ich drüber sprechen, wenn ich mein 'Wort zum Sonntag' halte"?

Pfarrer Gereon Alter (Essener Großpfarrei St. Josef Ruhrhalbinsel): Erschüttert hat mich erst einmal das Leid, das zu sehen war, angesichts der Hochwasserkatastrophe. Aber ich spreche nicht darüber, das haben meine Kollegen in den vergangenen Wochen schon getan, sondern über ein Phänomen, das mir eigentlich immer begegnet, wenn irgendetwas Schlimmes passiert. Da ist auf der einen Seite die konkrete Hilfe, die Solidarität. Das ist ganz beeindruckend. Aber, und das ist das Thema meines Beitrags, es wird auch wieder ganz schnell so ein Unverwundbarkeits-Mythos ins Feld geführt. Dann fallen so Sätze wie: Das wird nicht noch einmal passieren und das kriegen wir in den Griff. Da werde ich aufmerksam, weil ich als Seelsorger weiß, dass das Nicht-wahrhaben-wollen, dass wir immer und immer wieder verletzbar sind, keine guten Wirkungen hat.

DOMRADIO.DE: Wie kommt es denn, dass wir diese Verwundbarkeit so oft verdrängen und nicht an uns heranlassen?

Alter: Wunden sind schmerzhaft. Der Titel meines Beitrags ist: "Wir sind verwundbar - alle". Denn wenn wir mal ehrlich schauen: Das, was wir jetzt medial vermittelt bekommen, ist ja nur die Spitze eines Eisbergs. Wir müssen ja nur ins persönliche Umfeld schauen. Da erkrankt jemand plötzlich an Krebs, der nächste schlittert in eine psychische Krise. Sowas umgibt uns Tag ein, Tag aus. Es gehört zu unserer menschlichen Existenz, dass wir verwundbar sind. Und das ist natürlich nicht schön, das wollen wir verdrängen. Am greifbarsten wird es noch beim Alkoholiker. Der sagt: "Der Rausch gestern, das wird nie wieder vorkommen. Ab jetzt bleibe ich trocken bis an mein Lebensende." Der wird es schwieriger haben als der, der sagt: "Ja, ich bin an der Stelle verwundbar und ich muss jeden Tag schauen, dass ich damit klarkomme. Und wenn es gut geht, klappt das eine ganze Zeit. Aber es kann auch wieder sein, dass mir was Schlimmes passiert." Ich glaube, dass wir mit dieser Haltung besser durchs Leben kommen als mit diesem, ich nenne das mal "Unverwundbarkeits-Wahn".

DOMRADIO.DE: Kann da auch der Glaube eine Rolle spielen bei dieser Unverwundbarkeit?

Alter: Was mir sofort dazu einfällt: Jesus, der vor Pontius Pilatus steht, ein Gescheiterter, ein an Leib und Seele geschundener Mensch. Pilatus sagt über ihn "Ecce homo", das ist der Mensch, kein unbesiegbarer Held, sondern einer, der verwundbar ist. Da wird's für mich nochmal auf den Punkt gebracht, auch als Christ. Wir leben nicht in einer heilen Welt, aber wir können vieles heiler machen oder besser werden lassen, wenn wir erst einmal eingestehen, dass wir verwundbar sind. Es gibt auch aus der christlichen Lehre kommend den Satz: Geheilt werden kann nur, was angenommen ist. Und das bestätigt auch meine Lebenserfahrung und auch meine Erfahrung als Seelsorger.

DOMRADIO.DE: Würden Sie dann sagen, dass der christliche Glaube ein Plädoyer ist, diese Verwundbarkeit mehr anzunehmen?

Alter: Ja, wenn er richtig verstanden wird und eben nicht als Jenseits-Vertröstung. Es gibt ja auch innerhalb des Christentums solche problematischen Tendenzen. Aber wenn es so verstanden wird, wie ich es gerade versucht habe zu skizzieren, in dem Beispiel von Jesus und Pilatus, dann kann er erden. Dann kann er den Blick richten auf das, was in der Verwundbarkeit hier und jetzt doch auch an Gutem zu schaffen ist.

DOMRADIO.DE: Wo würden Sie sich wünschen, dass wir mehr unsere Verwundbarkeit zugeben in unserem Alltag?

Alter: Erst einmal nehme ich es als mediales Phänomen auch wahr. Es sind vor allem Politiker und auch Verantwortungsträger, die ganz schnell mit solchen Unverwundbarkeits-Mythen da sind. Alles verständlich. Man will keine Wähler verlieren. Man will auch keine Schwäche zeigen. In den USA übrigens, wenn da was passiert, kommt noch ganz stark das Motiv "Wir sind ein starkes Volk" dazu. Das trauen wir Deutschen uns nicht ganz so zu sagen. Da sehe ich erst mal eine große Herausforderung. Zumal ich mich dann immer frage: Wie wirkt das auf die, die gerade einen lieben Menschen verloren haben? Ja, da ist die starke Nation überhaupt kein Trost.

Im ganz persönlichen Umfeld gilt es aber in ähnlicher Weise. Mir sind Menschen sympathisch, die auch mal sagen: "Mensch, das kann ich nicht" oder "Das ist mir nicht gelungen" oder "Da habe ich eine Schwäche". Mit denen kann ich oft besser umgehen als mit so Helden des Alltags, wo immer alles glatt ist und alles gut läuft.

Das Interview führte Gerald Mayer.


Quelle:
DR