Münchner Gutachten erhebt schwere Vorwürfe gegen Erzbischöfe

"Das eingestürzte Lügengebäude"

Betroffene sprechen vom "Lügengebäude", das nun eingestürzt sei. Das Münchner Missbrauchsgutachten schont niemanden - weder den amtierenden Erzbischof Reinhard Marx noch den emeritierten Papst Benedikt XVI.

Autor/in:
Andreas Otto
Beleuchtete Türme des Doms zu Unserer Lieben Frau am 15. Januar 2022 in München. / © Dieter Mayr (KNA)
Beleuchtete Türme des Doms zu Unserer Lieben Frau am 15. Januar 2022 in München. / © Dieter Mayr ( KNA )

Das lange erwartete Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München-Freising belastet amtierende und frühere Amtsträger schwer, darunter besonders den emeritierten Papst Benedikt XVI.

Joseph Ratzinger habe sich als Münchner Erzbischof (1977-1982) in vier Fällen fehlerhaft verhalten, heißt es in der am Donnerstag in München vorgestellten Untersuchung der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW). Zudem bekunden die Gutachter erhebliche Zweifel an Aussagen von Benedikt XVI. zu einem besonders brisanten Fall eines Wiederholungstäters. Völlig gefehlt habe außerdem die Sorge um die Opfer. Betroffenenvertreter reagierten entsetzt.

Zwei Vorwürfe gegen Marx

Martin Pusch (r.), Rechtsanwalt der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl, spricht während der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens seiner Rechtsanwaltskanzlei zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising am 20. Januar 2022 in München. Neben ihm die Rechtsanwälte Ulrich Wastl (l.) und Marion Westpfahl (m.) aus der gleichen Kanzlei. / ©  Sven Hoppe/dpa-POOL (KNA)
Martin Pusch (r.), Rechtsanwalt der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl, spricht während der Pressekonferenz zur Vorstellung des Gutachtens seiner Rechtsanwaltskanzlei zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising am 20. Januar 2022 in München. Neben ihm die Rechtsanwälte Ulrich Wastl (l.) und Marion Westpfahl (m.) aus der gleichen Kanzlei. / © Sven Hoppe/dpa-POOL ( KNA )

Dem derzeitigen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, werfen die Anwälte vor, sich bis 2018 nicht ausreichend um Fälle sexuellen Missbrauchs gekümmert und sie in erster Linie untergeordneten Stellen überlassen zu haben. Konkret halten die Gutachter dem Erzbischof zudem vor, zwei Fälle nicht nach Rom gemeldet zu haben.

Marx war bei der Präsentation des ihm zuvor noch nicht bekannten Gutachtens nicht zugegen, verfolgte aber die übertragene Pressekonferenz. In einem Statement zeigte er sich "erschüttert und beschämt" über das erschreckende Ausmaß des Missbrauchs. Zu den konkreten Vorwürfen gegen ihn oder Benedikt XVI. äußerte er sich noch nicht. Für den nächsten Donnerstag ist eine Pressekonferenz mit ihm über die Schlussfolgerungen aus dem Gutachten angesetzt.

Benedikt beteuert Unwissen

Der emeritierte Papst bekräftigt in seiner 82-seitigen Stellungnahme für das Gutachten, er habe von der Vorgeschichte eines 1980 von Essen nach München versetzten pädophilen Priesters damals nichts gewusst. Auch sei er bei der entscheidenden Sitzung nicht dabei gewesen.

Dagegen verwies Anwalt Ulrich Wastl auf das Protokoll dieser Ordinariatssitzung. Dieses vermerke Ratzinger nicht als abwesend. Zudem dokumentiere es, dass der Erzbischof bei derselben Sitzung über die Trauerfeier für den Berliner Kardinal Alfred Bengsch und über vertrauliche Gespräche mit dem damaligen Papst Johannes Paul II. über den Theologen Hans Küng berichtet habe.

Nach Angaben von Wastl hat auch Ratzingers damaliger Generalvikar Gerhard Gruber seine frühere Aussage relativiert, er allein sei für den Seelsorgeeinsatz verantwortlich gewesen. Gruber habe jetzt ausgesagt, er sei dazu gedrängt worden, um Benedikt XVI. zu schützen.

ZdK fordert Konsequenzen

Der emeritierte Papst Benedikt XVI bei einem Interview 2018 / © Daniel Karmann (dpa)
Der emeritierte Papst Benedikt XVI bei einem Interview 2018 / © Daniel Karmann ( dpa )

In ersten Reaktionen verlangte das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) ein Ende der "organisierten Verantwortungslosigkeit" in der Kirche. Die Bewegung "Wir sind Kirche" forderte von Benedikt XVI. ein persönliches Schuldeingeständnis. Der Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch, Matthias Katsch, sprach mit Blick auf den emeritierten Papst von einem "Lügengebäude", das nun zum Einsturz gebracht worden sei. Der Kirchenrechtler Thomas Schüller erklärte, Joseph Ratzinger habe sein Lebenswerk zerstört. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, kritisierte das "vollständige Nicht-Wahrnehmen" der Betroffenen durch die Kirchenverantwortlichen.

Marx Vorgänger, Kardinal Friedrich Wetter, hat laut WSW in seiner mehr als 25-jährigen Amtszeit in 21 Fällen Fehlverhalten gezeigt. Vorwürfe richten sich auch gegen die verstorbenen Erzbischöfe und Kardinäle Michael Faulhaber, Joseph Wendel sowie Julius Döpfner.

Knapp 500 bekannte Opfer

Die Gutachter ermittelten insgesamt 235 mutmaßliche Täter von 1945 bis 2019, darunter 173 Priester. Die Zahl der Geschädigten liege bei 497. Das Dunkelfeld sei aber vermutlich weitaus größer.

67 Kleriker hätten aus Sicht der Anwälte wegen der "hohen Verdachtsdichte" eine kirchenrechtliche Sanktion verdient. In 43 Fällen sei jedoch eine solche unterblieben. 40 von ihnen seien weiter in der Seelsorge eingesetzt worden, darunter auch 18 strafrechtlich verurteilte Priester.

Erzbistum München und Freising

Das Erzbistum München und Freising ist mit rund 1,61 Millionen Katholiken (Stand: Mai 2021) das größte unter den sieben bayerischen Bistümern und eine der bedeutendsten Diözesen in Deutschland. Sie erstreckt sich über eine Fläche von 12.000 Quadratkilometern vorwiegend auf Oberbayern und ging hervor aus dem Hochstift Freising, das der heilige Bonifatius 739 errichtete. Nach der Säkularisation 1821 wurde der Bischofssitz nach Münchenverlegt und die Erhebung zum Erzbistum verfügt.

 © ilolab (shutterstock)
Quelle:
KNA
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