Moskauer Patriarchat betont Unantastbarkeit des Lebens

Neues sozialethisches Dokument

Wegen seiner Haltung zum Ukraine-Krieg wird das Moskauer Patriarchat international harsch kritisiert. Dabei ist es unter orthodoxen Kirchen führend in der Entwicklung einer Sozialethik. Das zeigt ein neues Dokument zum Lebensschutz.

Autor/in:
Nikolaj Thon
Symbolbild Frau mit Schwangerschaftstest / © fizkes (shutterstock)
Symbolbild Frau mit Schwangerschaftstest / © fizkes ( shutterstock )

"Über die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens vom Zeitpunkt der Empfängnis an" ist ein neues Dokument der Russischen Orthodoxen Kirche betitelt, das auf der Sitzung des Heiligen Synods am 27. Dezember 2023 angenommen (Protololl-Nr. 138) worden ist.

Es steht in einer Reihe mit anderen vergleichbaren moraltheologischen Texten aus den letzten Jahrzehnten. Hat das Patriarchat doch - mehr als andere orthodoxe Kirchen - aktuelle ethische Fragen in synodalen Dokumenten und im Rahmen des Bischofskonzils behandelt.

"Grundlagen des Sozialkonzepts der Russischen Orthodoxen Kirche"

Begonnen hatte es mit den "Grundlagen des Sozialkonzepts der Russischen Orthodoxen Kirche" (2000). Erarbeitet wurden diese unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad Kyrill (Gundjajew), des heutigen Moskauer Patriarchen: "Dieses Dokument ... legt die grundlegenden Bestimmungen ihrer Lehre über die Beziehungen zwischen Kirche und Staat und über eine Reihe von zeitgenössischen gesellschaftlich bedeutsamen Problemen dar. Das Dokument gibt auch die offizielle Position des Moskauer Patriarchats im Bereich der Beziehungen zum Staat und zur säkularen Gesellschaft wieder."

Russisch-orthodoxer Priester / © Allatrust (shutterstock)
Russisch-orthodoxer Priester / © Allatrust ( shutterstock )

Dem "Sozialkonzept" folgten bald die "Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Rechte des Menschen" (2008). Es hält fest: "In der modernen Welt ist die Überzeugung weit verbreitet, dass allein die Institution der Menschenrechte am besten zur Entwicklung der menschlichen Person und zur Organisation der Gesellschaft beitragen kann. ... Christen finden sich in Verhältnissen wieder, in denen gesellschaftliche und staatliche Strukturen sie zwingen können und oft schon zwingen, entgegen den Geboten Gottes zu denken und zu handeln, was die Erreichung des wichtigsten Ziels im menschlichen Leben - die Befreiung von der Sünde und die Erlangung des Heils - behindert."

In dieser Situation sei die Kirche aufgerufen, "auf der Grundlage der Heiligen Schrift und der Heiligen Überlieferung die grundlegenden Bestimmungen der christlichen Lehre über den Menschen in Erinnerung zu rufen und die Theorie der Menschenrechte und ihre Umsetzung im Leben zu bewerten".

Neues Dokument zur Abtreibung

Das jetzige neue Dokument zur Abtreibung entstand in einem mehrjährigen Prozess auf einem synodalen Weg, der inzwischen in der Russischen Kirche üblich ist. Der Entwurf wurde von der "Interkonziliaren Präsenz" ausgearbeitet und zur Diskussion veröffentlicht. Bei der "Interkonziliaren Präsenz" handelt es sich um ein beratendes Gremium, das das Patriarchat bei der Vorbereitung von Entscheidungen über die wichtigsten Fragen unterstützt. Erstmals tagte das Gremium aus Bischöfen, einfachen Klerikern, Mönchen und Laien 2010 in der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Dieses Gremium erarbeitete das hier vorgestellten Dokuments, das nun durch den 'Heiligen Synod' beschlossen wurde.

Symbolbild: Embryo in den Händen einer Frau / © vetre (shutterstock)
Symbolbild: Embryo in den Händen einer Frau / © vetre ( shutterstock )

Es beginnt mit dem einleitenden Abschnitt "Die Heilige Schrift über den Beginn des menschlichen Lebens", in dem mit entsprechenden Verweisen (Ps 138,13.15 ff; Hiob 10,8-12.18; Jer 1,4-5; Lk 1,13-15.41-44) erläutert wird, dass gemäß der Bibel das menschliche Leben im Mutterleib beginnt.

Absatz II "Das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben" stellt entsprechend fest: "Die Kirche bezeugt, dass das Leben des Menschen vom Augenblick der Empfängnis an beginnt und dass folglich daher der Mensch schon im Mutterleib ein Recht auf Leben hat", denn "ein einzigartiges Genom unterscheidet den Embryo von jeder Zelle im Organismus des Vaters oder der Mutter. Während des gesamten Verlaufs der intrauterinen Entwicklung kann der neue menschliche Organismus nicht als Teil des Körpers der Mutter betrachtet werden. ....

Solchermaßen ist der absichtliche Vollzug einer Abtreibung in einem beliebigen Stadium der Schwangerschaft eine vorsätzliche Beraubung des Lebens eines ungeborenen Kindes".

Sowohl vor als auch nach der Geburt unantastbar

Das Leben des Menschen sei somit sowohl vor als auch nach der Geburt unantastbar. Die Orthodoxe Kirche bekräftige daher das Menschenrecht auf Leben vom Augenblick der Empfängnis an und rufe auch den Staat zur gesetzlichen Sicherung des Lebens und der Gesundheit der ungeborenen Kinder auf.

Abschnitt III erklärt die Haltung der Kirche zu Schwangerschaftsabbrüchen, zuerst mit Verweisen auf die Tradition.

Symbolblid Füße eines Babys / © Feelkoy (shutterstock)
Symbolblid Füße eines Babys / © Feelkoy ( shutterstock )

Dabei stützt sich das Dokument auf frühchristliche Quellen, die auch im Wortlaut zitiert werden, wie die "Didache", den "Brief des Barnabas" oder Tertullian, der schreibt: "Da uns ein für alle mal Menschenmord verboten ist, dürfen wir uns nicht einmal erlauben, auch einen Embryo zu zerstören". Weiter zitiert werden Johannes Chrysostomos sowie Kanon 91 des Konzils in Trullo (7. Jahrhundert): "Frauen, die Medikamente verabreichen, die ungeborene Föten im Mutterleib schädigen, und die, die Gifte einnehmen, um den Fötus zu töten, werden mit der Strafe für Menschenmord belegt."

Das Dokument fordert auf diesem Hintergrund aber auch den Schutz der Mutterschaft, denn "zu den Lebensumständen, die Frauen dazu veranlassen, sich für den Vollzug eines Schwangerschaftsabbruchs zu entscheiden, gehören extreme materielle Not und Hilflosigkeit sowie eine frühe Schwangerschaft und eine Schwangerschaft ohne Ehepartner".

Die Verhütung von Schwangerschaftsabbrüchen erfordere daher "die Entwicklung wirksamer Maßnahmen zum Schutz der Mutterschaft und der Kindheit ebenso wie die Schaffung von Bedingungen für eine Adoption und die Unterbringung in Pflegefamilien von Kindern, deren Mütter aus dem einen oder anderen Grund nicht in der Lage sind, sie allein aufzuziehen".

Einrichtung von Krisenzentren für Frauen

Die Kirche unterstütze daher die Einrichtung von Krisenzentren für Frauen in schwierigen Lebenssituationen und rufe den Staat wie die Gesellschaft dazu auf, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Frau während der Schwangerschaft und nach der Geburt zu ergreifen.

Auch die Rahmenbedingungen von Schwangerschaftsabbrüchen werden beleuchtet: "Zu den gesellschaftlichen Gründen, die Frauen dazu veranlassen, sich für die Durchführung einer Abtreibung zu entscheiden, gehören die Zerstörung der Institution der Familie, die Orientierung an individualistischen Werten sowie die Propagierung und Verfügbarkeit von Abtreibungen". Daher erfordere die Vorbeugung von Schwangerschaftsabbrüchen den Schutz der Familie, der Mutterschaft und der Kindheit sowie die Festigung der Ideale der Keuschheit, der familiären Treue, der Freude an Mutterschaft und an kinderreichen Familien in der Gesellschaft. Eine Pro-Abtreibungspropaganda in jeglicher Form sei inakzeptabel und die Beteiligung eines orthodoxen Christen daran Sünde.

Zuflucht in einem Frauenhaus / © Ina Fassbender (dpa)
Zuflucht in einem Frauenhaus / © Ina Fassbender ( dpa )

Hingegen fordert das Dokument eine intensive Seelsorge für eine Frau, die abgetrieben hat, denn solche "braucht Heilung von dieser seelischen Wunde, die sie sich selbst zugefügt hat, indem sie diese schwere Sünde beging". Die Orthodoxe Kirche könne zwar unter keinen Umständen ihren Segen für die Durchführung einer Abtreibung geben, verwerfe aber nicht die Frauen, die eine Abtreibung vorgenommen haben, sondern rufe sie zur Buße durch Gebet und Beichte auf, "gefolgt von der Teilnahme an den heilbringenden Mysterien."

Zugleich wird in Fällen, in denen eine direkte Gefahr für das Leben der Mutter bei Fortsetzung der Schwangerschaft besteht, empfohlen, Milde walten zu lassen. Eine schwangere Frau hingegen, die aus freiem Willen einen Schwangerschaftsabbruch ablehnt, auch um den Preis ihrer eigenen Gesundheit oder sogar ihres Lebens, "ist in ihrem Leiden, um das Leben des Kindes zu retten, das großartigste Beispiel mütterlichen Opfers".

Eindringlich betont das Dokument die Verantwortung der Angehörigen und nahe stehenden Personen für die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs, denn gerade in der Zeit der Schwangerschaft brauche eine Frau die Unterstützung ihrer Nächsten und insbesondere ihres Ehepartners, die eine Mitverantwortung tragen.

Darüber hinaus könne die Nötigung der Frau zur Abtreibung durch den Ehemann gleichermaßen wie die alleinige Entscheidung der Frau für eine Abtreibung als Grund für die mögliche Beendigung einer kirchlichen Ehe gelten. Zudem sollten "Personen, die eine Frau zum Vollzug einer Abtreibung drängen und daran mitbeteiligt sind, mit nicht weniger strengen kanonischen Strafen belegt werden als für eine vorsätzlich vorgenommene Abtreibung selbst".

Ausführlich behandelt das Dokument auch die Verantwortung der medizinischen Mitarbeiter für die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs. Medizinisches Personal, das an Abtreibungen mitwirke, handle in direktem Widerspruch zu ihrer ursprünglichen Berufung, menschliches Leid zu verhindern und zu lindern. Weiter fordert die Kirche "den Staat auf, das Recht der medizinischen Mitarbeiter zur Verweigerung des Vollzugs von Abtreibungen aus christlichen Gewissensgründen zu garantieren". Es sei inakzeptabel, dass Ärzte oder andere medizinische Mitarbeiter eine schwangere Frau dazu überreden oder ihr raten, sich für eine Abtreibung zu entscheiden.

Sodann wendet sich das Dokument weiteren medizinisch-ethischen Problemen zu, etwa der Verwendung von Gewebe und Organen menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken. Dies sei unzulässig. Dabei wird auch abtreibende Empfängnisverhütung behandelt: "Die Kirche erachtet die Verwendung von Verhütungsmitteln, die einen abtreibenden Charakter haben, für unzulässig. Medizinische Präparate, die einen abtreibenden Charakter haben, müssen entsprechend gekennzeichnet sein. Bei der Benutzung von Hormonpräparaten oder anderen medizinischen Präparaten, deren Einnahme zu einem Verlust des Fötus führen kann, sollten die Ehepartner für die ganze Dauer der Behandlung auf einen Geschlechtsverkehr verzichten, der zu einer Empfängnis und damit zu einem möglichen Tod des Fötus führen könnte."

Pränatale Diagnostik

In einem eigenen Abschnitt angesprochen wird pränatale Diagnostik: "In den Fällen, da die Pränataldiagnostik, einschließlich der Gendiagnostik, dazu bestimmt ist, ein Kind im Stadium der intrauterinen Entwicklung zu behandeln, ist sie moralisch zulässig und unterscheidet sich ihrem Wesen nach nicht von jedem anderen medizinischen Verfahren, das darauf ausgerichtet ist, menschliches Leben zu retten und zu heilen". Pränataldiagnostik sei somit zulässig, wenn das Verfahren nicht das Leben oder die körperliche Unversehrtheit des ungeborenen Kindes oder der Mutter gefährdet.

Blutprobenröhren im Labor / © Roman Zaiets (shutterstock)
Blutprobenröhren im Labor / © Roman Zaiets ( shutterstock )

Leider führten die Ergebnisse der Pränataldiagnostik nicht selten dazu, dass eine Frau "aus medizinischen Gründen" eine Abtreibung vornimmt, da sie manchmal stärkstem psychischen Druck ausgesetzt sei, auch von Seiten der Ärzte, wenn bei ihrem Fötus die einen oder anderen Anomalien festgestellt werden. "Ein solcher Druck ist nicht hinnehmbar. Das Leben des Kindes muss unabhängig von den Ergebnissen der Pränataldiagnose geschützt werden. ... Nicht hinnehmbar ist auch die Anwendung von Gentestmethoden ... mit dem Ziel der Auswahl erwünschter Merkmale des künftigen Kindes, darunter auch seines Geschlechts, da eine solche Methode die Tötung von den Kindern voraussetzt, die in der Phase ihrer embryonalen Entwicklung nicht ausgewählt wurden".

Doch stellt abschließend das Dokument vorsichtig fest: "Die Vervollkommnung der Gentechnologien in den kommenden Jahren könnte eine mögliche Korrektur der genetischen Merkmale des Embryos in den frühesten Stadien seiner Entwicklung eröffnen und zur Ausmerzung genetischer Krankheiten beitragen. Ein solcher Eingriff kann jedoch mit hohen Risiken verbunden sein, einschließlich unvorhergesehener Schädigungen und sogar dem Tod des Kindes. Die Möglichkeit der Anwendung solcher Technologien bedarf vom ethischen Standpunkt aus einer detaillierten Betrachtung in jedem konkreten Fall".

Russisch-orthodoxe Kirche

Die russisch-orthodoxe Kirche ist mit rund 150 Millionen Gläubigen die mit Abstand größte orthodoxe Nationalkirche. In Russland bekennen sich gut zwei Drittel der Bevölkerung zu ihr - etwa 100 Millionen Menschen. Fast alle übrigen früheren Sowjetrepubliken zählt das Moskauer Patriarchat ebenfalls zu seinem kanonischen Territorium.

Russisch-orthodoxe Kirche mit Baugerüst / © Balakate (shutterstock)
Russisch-orthodoxe Kirche mit Baugerüst / © Balakate ( shutterstock )
Quelle:
KNA