Medizinethiker skeptisch gegenüber Triage-Regelung

"Das ist eine hohe Anspannung und berührt mich als Arzt sehr"

Wer wird im Pandemiefall beatmet, wenn nicht für alle Patienten ein Beatmungsgerät vorhanden ist? Der Bundestag will solche Entscheidungen nun regeln. Für den Medizinethiker Sahm kann dies aber neue Probleme aufwerfen.

Autor/in:
Christoph Scholz
Ein Pfleger zieht Schutzkleidung an am 29. April 2020 für die Arbeit auf der Intensivstation des Krankenhauses San Filippo Neri in Rom. / © Cristian Gennari/Romano Siciliani (KNA)
Ein Pfleger zieht Schutzkleidung an am 29. April 2020 für die Arbeit auf der Intensivstation des Krankenhauses San Filippo Neri in Rom. / © Cristian Gennari/Romano Siciliani ( KNA )

KNA: Herr Sahm, am Donnerstag will der Bundestag über eine Regelung zur Triage abstimmen. Haben Sie so eine Entscheidungssituation auf Leben und Tod schon mal erlebt?

Stephan Sahm (Medizinethiker und Palliativmediziner): Bislang konnten wir solche dramatischen Entscheidungen vermeiden. Engpässe bei der Versorgung haben wir aber leider immer wieder. Wenn etwa ein Schädelhirnverletzter durch das Rhein-Main-Gebiet gefahren wird, bis eine Intensivstation endlich einen Platz frei hat. In der Pandemie hat sich die Lage nochmals verschärft. Bislang konnten wir aber noch immer ein Bett finden, im Notfall per Hubschrauber.

KNA: Was bedeutet das für Sie als Arzt?

Sahm: Wir sehen einen Menschen in äußerster Not, dem dringend geholfen werden muss, und wir können ihn nicht unmittelbar versorgen: Das ist eine hohe Anspannung und berührt mich als Arzt sehr. Auch dem Rettungspersonal und den Sanitätern geht das nahe. Dann telefonieren wir die Krankenhäuser ab, in Gießen, in Marburg und so weiter immer in der Hoffnung, rasch einen Platz zu finden.

Triage

Der Begriff "Triage" bezeichnet in der Medizin eine Methode, um im Fall einer Katastrophe oder eines Notfalls die Patienten auszuwählen, die zuerst eine medizinische Versorgung erhalten. Das Wort stammt aus dem Französischen und bedeutet übersetzt "sortieren" oder "aussuchen". Der Begriff stammt aus der Militärmedizin, wo es um die Versorgung der Verletzten auf dem Schlachtfeld geht. Inzwischen wird er auch in der Notfallmedizin oder dem Zivilschutz etwa bei Katastrophen, Terroranschlägen oder Pandemien verwandt. Dazu wurden strukturierte Triage-Instrumente entwickelt.

Triage für Coronavirus-Notfälle in Bergamo / © Claudio Furlan (dpa)
Triage für Coronavirus-Notfälle in Bergamo / © Claudio Furlan ( dpa )

KNA: Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber nun beauftragt, mögliche Diskriminierungen von Menschen mit Behinderung zu verhindern. Verbände sehen die Gefahr, dass ungewollt unbewusste Vorurteile in die Entscheidung bei der Zuteilung überlebenswichtiger Mittel einfließen. Wie schätzen Sie das ein?

Sahm: Aus meinen Erfahrungen hier im Hause und den Kliniken, in denen ich gearbeitet habe, kann ich das nicht nachvollziehen. Aber man kann es theoretisch nie ganz ausschließen. Ich glaube allerdings, dass dies auch kein Gesetz verhindern kann.

KNA: Wie beurteilen Sie die Regelung zur Triage?

Sahm: Wir behandeln Patienten unabhängig von der Frage, wann und warum sie zu uns kommen. Im Mittelpunkt stehen der aktuelle Gesundheitszustand, seine körperliche Fitness oder Gebrechlichkeit, seine Vorerkrankungen und so weiter. Solche Entscheidungen betreffen im Übrigen auch andere überlebenswichtige Zuteilungen etwa bei einer Transplantation oder Eingriffen am Herzen. Und das gilt wiederum völlig unabhängig davon, ob jemand kleinwüchsig ist, eine Gehhilfe braucht oder geistig behindert ist. Deshalb halte ich den Begriff der Behinderung auch für wenig hilfreich.

KNA: Wäre zumindest eine Fortbildung dienlich, um im Ernstfall angemessen zu handeln?

Sahm: Das kann sicher helfen. Es besteht aber ein breiter Konsens, dass jeder Mensch gleichermaßen zu versorgen ist, selbst ein Terrorist oder Diktator.

KNA: Wie bewerten Sie das Kriterium der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit als entscheidend für die Triage?

Sahm: Für mich gibt es kein anderes. Bei jedem Patienten muss stets die Aussicht bestehen, dass er die Intensivstation rasch wieder verlassen kann und auch das Krankenhaus. Wenn diese Perspektive nicht vorhanden ist, dann braucht man die Therapie gar nicht beginnen.

KNA: Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich das Verbot der ex-post-Triage vor, dass also eine begonnene Behandlung nicht beendet werden darf, um die Mittel für einen Patienten mit besser Aussicht frei zu machen...

Sahm: Das ist in der Tat ethisch geboten. Es gilt schon jetzt.

KNA: Dennoch hat sich die Ärzteschaft hierzu kritisch geäußert...

Sahm: Weil sie nach dem Gesetzestext befürchtete, dass Menschen nun aufgrund der Fehldeutung einer Formulierung etwa weiter an der Atemmaschine bleiben, obwohl sich die Perspektive verschlechtert hat und die Therapie aus palliativmedizinischer Sicht längst hätte begrenzt werden müssen. Wir müssen immer neu überprüfen, ob eine begonnene Therapie noch sinnvoll ist, und dürfen die palliativmedizinische Sicht nicht aus den Augen verlieren. Sonst verlängern wir nur Qualen, und die Intensivmedizin wird zur Hölle.

KNA: Wie genau kann eine Prognose überhaupt sein?

Sahm: Das ist sehr unterschiedlich. Es ist aber eine Illusion zu glauben, dass exakte Prognosen möglich sind.

KNA: Wie bewerten Sie die Forderung nach einem Vieraugenprinzip bei der Triage?

Sahm: Sie ist sehr sinnvoll. Das Gesetz beschränkt sie leider auf Infektionskrankheiten. Sie wäre auch in vielen anderen Fällen vorzuschreiben: Wenn etwa Intensivbetten wegen des Personalmangels gesperrt werden und ein Patient mit Schädelhirntrauma kommt. Auch hier sollten Diskriminierungen vermieden werden.

Quelle:
KNA