Leitvers der evangelischen Kirche ermutigt zum Hinschauen

"Gott nimmt Anteil an unserem Schicksal"

"Du bist ein Gott, der mich sieht" lautet die evangelische Jahreslosung für 2023. Was dahinter steht, wie der Vers heute noch Mut machen kann und was die Energiekrise damit zu tun hat, erklärt Präses Thorsten Latzel im Interview.

"Du bist ein Gott, der mich sieht" - die Jahreslosung der Evangelischen Kirche / © Jaromir Chalabala (shutterstock)
"Du bist ein Gott, der mich sieht" - die Jahreslosung der Evangelischen Kirche / © Jaromir Chalabala ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: "Du bist ein Gott, der mich sieht". Wer sagt das in der Bibel und warum?

Thorsten Latzel (Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland): Ja, das sagt im Buch Genesis Hagar, eine Magd, und zwar in einer ziemlich ausweglosen Situation. Sie ist die Magd von Abraham und Sara, die ja ausgezogen sind in ein Land, das einmal ihren Kindern gehören soll. Aber die haben gar keine Kinder. Und dann kommt es zu der Situation, dass Sara zu Abraham sagt, dass er mit Hagar Kinder zeugen soll.

Hagar wird schwanger, dann kommt es zum Konflikt zwischen Sara und Hagar. Sara demütigt sie, Hagar flieht in die Wüste, will mit dem Leben abschließen, ist in einer ganz schwierigen Lage. Und dann, als sie da so in der Wüste liegt, kommt ein Engel zu ihr, stärkt sie und gibt ihr die neue Zukunftshoffnung, dass ihr Kind einmal eine große Zukunft haben soll. Daraufhin sagt Hagar eben diesen Satz: Du bist ein Gott, der mich sieht.

Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland / © Harald Oppitz (KNA)
Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland / © Harald Oppitz ( KNA )

DOMRADIO.DE: Gibt es denn Menschen, die Gott nicht sieht? Gott liebt doch alle gleich.

Latzel: Ja, dass Gott uns alle sieht ist die Zuversicht und der Glaube, den wir haben. Nur ist die Frage, ob sich das Menschen erschließt; ob Menschen die Erfahrung machen, dass Gott da ist. Dieses Sehen bedeutet ja, angesehen zu sein; dass da jemand ist, der den ganzen Schlamassel in meinem Leben und in unserer Welt mitbekommt; dass wir nicht allein damit sind. Das heißt nicht, dass man damit die Antworten auf alle Fragen hätte, genauso wenig wie Hagar damals.

Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, über die Jahreslosung 2023:

"Es bedeutet, angesehen zu sein; dass da jemand ist, der den ganzen Schlamassel in meinem Leben und in unserer Welt mitbekommt; dass wir nicht allein damit sind."

Hagar kehrte zurück zu Sara und muss sich ihr unterordnen. Damit sind jetzt nicht alle Schwierigkeiten beseitigt, aber sie gewinnt eine andere Lebenshoffnung. Das ist etwas, woraus Christinnen und Christen leben – dass wir diese Hoffnung haben. Gott sieht uns und nimmt Anteil an unserem Schicksal.

DOMRADIO.DE: Jetzt gibt es diesen Leitvers für das Jahr. Wie lässt sich denn der Vers auf unser Heute übertragen?

Latzel: An vielen Stellen. Erst mal stärkt es mich selber ganz persönlich darin, dass ich wirklich weiß: Wir halten die Welt nicht selbst in unseren Händen, sondern da ist Gott, der trotzdem herrscht -auch wenn ich häufig nicht weiß, wie das geschieht- und der diese Welt in seinen Händen hält.

Wir retten nicht die Welt, sondern wir sollten an unserem Ort jeweils schauen, dass wir hinschauen. Gottes Sehen ermöglicht unser Hinschauen, damit wir bei dem Leid unserer Mitmenschen nicht wegsehen. Das ist wichtig, gerade bei den Schreckensnachrichten, die wir im letzten Jahr 2022 gehabt haben.

Manche Menschen haben gesagt: "Ich konnte gar nicht mehr hinsehen, irgendwann habe ich die Nachrichten einfach abgeschaltet". Dieses Hinsehen Gottes ermöglicht mir, dass ich weiterhin sehe und darauf vertrauen kann, dass Gott es sieht; dass Gott sich um mich kümmert, auch wenn ich nicht immer genau sagen kann, wie das geschieht.

Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

"Gottes Sehen ermöglicht unser Hinschauen, damit wir bei dem Leid unserer Mitmenschen nicht wegsehen."

DOMRADIO.DE: Wie können die Kirchen in Deutschland diesen Leitvers fürs Jahr 2023 umsetzen?

Latzel: Der Vers wird natürlich Thema in vielen Andachten und Predigten sein. Aber vor allem können wir ihn umsetzen, indem wir uns den Nöten von Menschen in der Seelsorge, in der Diakonie, ganz konkret zuwenden. Wir haben es erlebt etwa in der Coronazeit, wo in der Telefonseelsorge viele Menschen angerufen haben und gesagt haben: "Sie sind der erste Mensch, mit dem ich heute überhaupt rede. Der erste Mensch, der das wahrnimmt von mir". Bei der Armutssituation, die wir gerade durch die Teuerung und Inflation im letzten Jahr erlebt haben – dass wir hinschauen, wie es der Nachbarin geht, der alleinerziehenden Mutter, und sie nicht allein zu lassen und diakonisch zu helfen.

Wir haben einen großen Andrang bei den Tafeln. Auch da merken wir, dass es ein Leid von Menschen gibt, wo wir hinschauen sollten. Noch mehr, wenn wir erst mal den Blick weiter richten: In die Ukraine, aber auch an anderen Stellen, wo Menschen unter der Energieknappheit, der Weizenlieferung aus der Ukraine, leiden und da Gott zu klagen: Schau' dort hin, schau' weiterhin und lass' mich nicht allein damit. Und zugleich, dass wir tun, was wir machen können.

DOMRADIO.DE: Was bedeutet Ihnen die aktuelle Losung ganz persönlich?

Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland

"Da ist diese Zusage, dass Gott hinsieht und mich wahrnimmt, zugleich aber auch der Anspruch, dass ich die Augen öffne und andere wahrnehme."

Latzel: Also, mich hat dieses Thema des Sehens nochmal zum Nachdenken gebracht. Dass ich mir klargemacht habe - wir kommen gerade von Weihnachten her - dass Jesus als erstes in die Augen von Tieren und von Menschen geschaut hat. Ich merke bei mir selber, wie schnell es passiert, dass ich im Alltag in einen Tunnelblick gerate, nur noch manche Dinge wahrnehme, anderes ausblende, einfach funktioniere.

Und da ist diese Zusage, dass Gott hinsieht und mich wahrnimmt, zugleich aber auch der Anspruch, dass ich die Augen öffne und andere wahrnehme. Wir uns auch gegenseitig mit den Augen Gottes wahrnehmen, das heißt, so wie ich von Gott angesehen bin, versuche ich, auch im anderen nicht die Fehler, sondern einen einen geliebten Menschen zu sehen. 

Das Interview führte Dagmar Peters. 

In Zahlen: Evangelische Kirche im Rheinland

Die Evangelische Kirche im Rheinland zählt aktuell rund 2.336.000 Mitglieder in 643 Kirchengemeinden (Stand 1.1.2022). Mit gut 1,8 Millionen Menschen leben die meisten von ihnen in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Rheinland-Pfalz (rund 325.000), dem Saarland (knapp 127.000) und Hessen (knapp 68.000).

Symbolbild Statistik / © sasirin pamai (shutterstock)
Quelle:
DR