Kritik an der Finanzierung - Pflegende werden entlastet

Baustelle Pflegeversicherung

Die Pflegeversicherung ist eine Baustelle mit ständigem Reparaturbedarf. Mit dem neuen Reformgesetz wird erstmals nach dreizehn Jahren das Pflegegeld erhöht. Besonders für Angehörige von Pflegebedürftigen gebe es jetzt Erleichterungen, beschreibt Peter Neher, Präsident der Caritas, die Vorteile der Reform im domradio Interview. Auch die häusliche Pflege würde gestärkt. Ein Manko bleibt die Finanzierung. So sei ein Risikostrukturausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflege politisch nicht durchsetzbar gewesen, bedauert Neher.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

Auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) muss einräumen, dass die Finanzierung eine Schwachstelle der Reform ist. Die Anhebung der Beiträge um 0,25 Prozentpunkte würde höchstens bis 2015/2016 reichen.

Der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen kritisierte, die eigentlichen Finanzierungsprobleme der Pflege blieben ungelöst. Wegen der wachsenden Zahl alter und damit auch kranker Menschen bis zum Jahr 2040 würden fast zweieinhalbmal so viele Pflegefälle zu betreuen sein, «die dann von nur noch zwei Dritteln der heutigen Beitragszahler zu finanzieren sind», erläutert der Experte im ZDF das Problem. Raffelhüschen sprach sich für eine «grundsätzliche Umstellung» auf ein kapitalgedecktes System aus. Die Lohnbezogenheit in den Beiträgen sei falsch.

Es sei, als wollte man «mit einer Wasserpistole einen Waldbrand löschen», sagte Münchner Pflegeexperten Claus Fussek im Deutschlandradio. Die dramatisch schlechte Situation in den Pflegeheimen sei nur durch einen Systemwandel abzuschaffen. Fussek forderte die Abschaffung der Pflegestufen und Pflegeminuten sowie die Zusammenlegung von Kranken- und Pflegeversicherung.

Bis 2020 Verdoppelung der Heimnachfrage
Fest steht, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland in den kommenden Jahren stark ansteigen wird. Nach Angaben des Direktors des Freiburger Forschungszentrums Generationenverträge, Bernd Raffelhüschen, wird sich die Anzahl der Pflegefälle bis zum Jahr 2050 auf 4,1 Millionen mehr als verdoppeln.

Weil immer mehr Frauen berufstätig werden und deshalb für die familiäre Pflege ausfallen, weil Haushalts- und Familienstrukturen sich ändern, rechnen Wissenschaftler zugleich mit einer verstärkten Inanspruchnahme professioneller Heimpflege und ambulanter Pflegedienste. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln geht davon aus, dass im Jahr 2020 rund eine Million Plätze in Pflegeheimen gebraucht werden - fast doppelt so viele wie derzeit.

Pfleger gesucht
Schon heute sinkt die Zahl der Menschen, die zu Hause gepflegt werden: von 77 Prozent 1996 auf 68 Prozent im Jahr 2004. Allein für die Altenpflege rechnet die Enquetekommission des Bundestags zum demografischen Wandel deshalb mit einem Anstieg des Personalbedarfs von 220.000 im Jahr 1998 auf mindestens 570.000 bis 2050.

Dabei ist das Berufsbild des Altenpflegers bislang wenig attraktiv.  Die Zahl der Schwerstpflegefälle sei in den vergangenen zehn Jahren um 40 Prozent angestiegen, warnt der Bundesgeschäftsführer des Berufsverbandes für Pflegeberufe, Franz Wagner. Rückenbeschwerden, Stress, Burnout sowie Frust über fehlende Aufstiegschancen: Auch Stephan Brandenburg von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) in Hamburg sieht Alarmzeichen. "Die Pflegekräfte sind häufiger gesundheitlich angeschlagen als andere Beschäftigte", meint er. Gedanken an einen Berufsausstieg lägen da oft nicht fern.

Auch Raffelhüschen verweist auf Studien, nach denen 18,4 Prozent der Pflegekräfte über einen Jobausstieg nachdenken. Für den Freiburger Wissenschaftler steht deshalb fest, dass der Pflegeberuf deutlich attraktiver gemacht werden muss. Mit personellen Einsparmöglichkeiten rechnet er nicht mehr.

Problem Demenzpatienten
Ein weiteres Problem ist die wachsende Zahl von Demenzpatienten.  Nach Angaben der Regierung sind über eine Million Menschen daran erkrankt. Bis 2030 wird diese Zahl voraussichtlich auf 1,5 Millionen ansteigen. Bislang hielt die Pflegeversicherung für sie kaum Leistungen vor: Die Einteilung in Pflegestufen berücksichtigte rein körperliche Gebrechen. Das ändert sich jetzt: Die Leistungen für Menschen mit "erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz", darunter Demenz-, Alzheimer- und psychisch Kranke sowie geistig Behinderte, sollen auf bis zu 2.400 Euro im Jahr anwachsen.

Noch mehr versprechen sich Experten von der Neudefinition des Begriffs der Pflegebedürftigkeit, die Schmidt in die Wege geleitet hat. Nach einer Textphase in sechs Regionen soll der eigens dafür eingerichtete Beirat im November den Abschlussbericht vorgelegen. Es gehe um eine Abkehr von der sogenannten Minutenpflege, umriss Schmidt im KNA-Interview am Sonntag das Ziel. "Wir wollen den Menschen ermöglichen, mit den neuen Leistungen exakt jene Pflege einkaufen zu können, die sie individuell brauchen."