Konkurrieren Konzerte und Sportevents mit der Kirche?

"Menschen suchen nach etwas wie Heimat"

Krisen sorgten früher meist für volle Kirchen. Die Menschen suchten ihr Heil bei Gott. Anders während der Corona-Pandemie, weil ihnen teils der Zugang verweigert wurde. Und heute? Sind Konzerte und Fußball die neuen Anziehungspunkte?

Autor/in:
Uta Vorbrodt
US-Sängerin Taylor Swift  / © Claudio Furlan (dpa)
US-Sängerin Taylor Swift / © Claudio Furlan ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie befassen sich zusammen mit dem bekennenden Atheisten Thomas Knüwer mit dem Thema "Churchaissance". Dazu haben Sie auf der Digitalmesse re:publica in Berlin in dieser Woche einen Vortrag gehalten. Was verstehen Sie unter "Churchaissance"?

Wolfgang Lünenbürger-Reidenbach (Theologe, Blogger, Kommunikationsberater): Damit fassen wir eigentlich zusammen, welche Kulturbeobachtung wir machen. In der Polykrise, die wir gerade haben, würde man eigentlich erwarten, dass die Leute in die Kirche laufen, um Sinn zu finden. Sie tun das aber woanders. Wenn ich mir das genauer anschaue, auch mit dem Wissen darüber, wie Kirche sich eigentlich so über die Jahrhunderte organisiert hat, sehen wir erstaunlich viele Parallelen dazu: liturgischer Wechselgesang, man macht sich schick, man kommt mit Menschen zusammen, mit denen man irgendwie auf einer Wellenlänge ist, es ist unglaublich friedlich. Bis hin zu den dunklen Seiten von Religion, was Manipulation, was Ausgrenzung und so weiter angeht. 

DOMRADIO.DE: In Krisenzeiten waren die Kirchen voll. Bei Pest, Krieg oder Hunger war es immer so, dass die Menschen intensiv die Kirche besuchten. Das tun sie aber jetzt nicht mehr, sondern sie verlagern sich ins Digitale?

Taylor Swift Konzert in Gelsenkirchen / © Renardo Schlegelmilch (DR)
Taylor Swift Konzert in Gelsenkirchen / © Renardo Schlegelmilch ( DR )

Lünenbürger-Reidenbach: In erster Linie verlagern sie sich gar nicht so sehr ins Digitale, aber digital vermittelt finden sie Orte, die "kleiner" sind oder einfach woanders sind, manchmal auch riesengroß sind. 

Ich nenne ein Beispiel: Konzerte von einer Künstlerin wie Taylor Swift. Die war im letzten Jahr auch in Europa und in Deutschland unterwegs. Solche Konzerte sind abseits des eigentlichen Gott- oder Religionsaspekts Gottesdiensten total ähnlich: Menschen kommen zusammen, Menschen haben eine gemeinsame Idee davon, Menschen entwickeln aus der Gemeinschaft heraus neue Rituale, in denen sie sich selbst wirksam empfinden und nicht einfach nur berieseln lassen. Das ist der größte Unterschied zu dem, was insbesondere die beiden großen Kirchen anzubieten haben.

DOMRADIO.DE: Ist das denn eine neue Form von Kirche oder gäbe es da vielleicht auch schöne Kooperationsmöglichkeiten? 

Lünenbürger-Reidenbach: Menschen suchen nach etwas wie Heimat, nach Spiritualität. Das finden viele Menschen und auch ich nicht mehr in ihren traditionellen Kirchen. Das sage ich als jemand, der mit Kirche groß geworden ist und niemals austreten würde. Das sind oft heute von Religion entleerte Rituale. 

Deshalb finden viele Menschen, so beobachten wir es, in anderen Situationen Gemeinschaft, Zugehörigkeitsgefühl, auch Abgrenzung zur Welt draußen an anderen Stellen. Sei es im Fußballstadion, sei es auf Bitcoin-Konferenzen, sei es auf so schrecklichen Sachen wie Trump-Rallys. Sie finden dort diese Form von Gemeinschaft und von Inklusivität und von Exklusivität. 

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn bei dem Ganzen die Technologie?

Lünenbürger-Reidenbach: Die spielt natürlich eine relativ große Rolle, insbesondere der Kommunikationsaspekt davon. Früher wäre es so gewesen, dass ich auf ein Konzert gehe und ungefähr weiß, welche Titel dort gespielt werden. Aber ich weiß nicht 100 Prozent, was mich erwartet. Heute sehe ich ganz viele Schnipsel auf TikTok, auf Instagram, auf Facebook und sonstwo darüber, was dort passiert. Dadurch entsteht diese Fantasie. 

Ich gebe ein Beispiel: Das Publikum in einem Taylor Swift-Konzert ist Teil der Performance. Man lässt im Zusammenspiel von Künstlerin und der Menschenmenge eine Art liturgischen Wechselgesang entstehen. Das spielt auch in Fußballstadien eine Rolle. Die Menschen können sich über eine Kommunikationstechnologie zwischen den Spielen verabreden, ohne dauernd in einem Raum sein zu müssen. Sie können zum Beispiel gemeinsam Choreografien entwickeln. 

Deutsche Fans singen die Nationalhymne / © Rene Tillmann (dpa)
Deutsche Fans singen die Nationalhymne / © Rene Tillmann ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sind diese ganzen Phänomene denn nun gut oder schlecht? 

Lünenbürger-Reidenbach: Sowohl als auch. Natürlich gibt es genau wie auch bei bei traditioneller Religion positive und negative Aspekte. Es hat immer auch religiöse Ausdrucksformen gegeben, die manipulativ waren, die exklusiv waren, die aus Schmerzensritualen und aus Angst bestanden.

Und auch das gibt es heute. Was im Mittelalter Geißlerprozessionen waren, betrifft heute Leute, die bei Bitcoins oder Meme-Stalks aktiv sind und sich selber in bestimmten Situationen geißeln. Es gibt sektenartige Dinge rund um Multi-Level-Marketing, was unter Jugendlichen auf einmal wieder in ist, also Schneeballsysteme und so weiter. Es gibt ganz klar ausschließende und trennende, nach drinnen und draußen trennende Phänomene. 

Aber auf der anderen Seite gibt es aber auch ganz viel Zusammengehörigkeitsgefühl, ganz viel friedliches Zusammenkommen, ganz viel Auftanken, ganz viel hohe Emotionalität, die Sicherheit gibt, die emotionale Stabilität gibt und so weiter. Es passiert beides. Für die Gesellschaft sehen wir zumindest auch einen eher positiven Ausblick. 

Das Interview führte Uta Vorbrodt.

Quelle:
DR

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