In einem am Donnerstagabend veröffentlichten Statement hat der Kölner Erzbischof davor gewarnt, die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Frage zu stellen. Sie müsse ohne Einschränkungen und "zu jedem Zeitpunkt des Lebens" gelten – "von der Empfängnis an bis zum natürlichen Lebensende", so der Kardinal. Woelki fürchtet zudem eine Auswirkung auf weitere Grundrechte eines jeden Menschen, sollte dieses grundlegende Menschenrecht nicht mehr anerkannt werden.
"Wenn der Staat das Lebensrecht als Grundrecht des Menschen nicht mehr schützt, hat er sich selbst als Rechtsstaat aufgegeben", urteilt Woelki. In dem Statement lobt der Kardinal ausdrücklich die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Fragen des Lebensrechts und bezeichnet das Gericht als "Garant für den Schutz der Menschenwürde in allen Lebensphasen". Der Kardinal hofft daher auch in Zukunft auf das Verfassungsgericht – "als Christ und Bischof, vor allem aber auch als Staatsbürger".
Klare Forderung
Sein Statement schließt Kardinal Woelki mit einer Forderung an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags, die am Freitag über die Ernennung neuer Richterinnen und Richter am Bundesverfassungsgericht abstimmen werden. Sie sollen mit ihrer Wahl "ihrer Verantwortung gerecht werden" und "ein unmissverständliches Bekenntnis" zur "Würde jedes Menschen" ablegen.
Woelki sei deswegen mit "größter Sorge" erfüllt, wenn die Würde eines Menschen in Frage gestellt wird. Der Lebensschutz gelte "vom Moment der Empfängnis an", erinnert der Kölner Erzbischof und verspricht, sich "entschieden gegen jedweden Versuch, das Lebensrecht als Grundrecht eines jeden Menschen zu relativieren oder es gar aufzugeben, einzusetzen".
Sozialethiker fordert Rückzug der Kandidatin
Unterdessen fordert der Kölner Sozialethiker Elmar Nass die Juristin Brosius-Gersdorf zum Rückzug von ihrer Nominierung auf. Nur so könne sie noch Schaden vom Land abwenden, schreibt Nass in einem Gastbeitrag auf DOMRADIO.DE. "Die SPD hat mit dieser Nominierung bewusst die Zerreißprobe der Union in Kauf genommen. Dieses politische Kalkül schadet dem Amt und der Demokratie. Und auch der Kandidatin selbst, die zu einem Instrument solcher Interessen gemacht wird."
Gerade die christlichen Politiker im Bundestag stünden bei der Entscheidung am Freitag vor der Gewissensfrage. "Die lebensethischen Positionen von Frau Brosius-Gersdorf sind aus christlicher Sicht nicht vertretbar." Kritik richtet der Sozialethiker aber vor allem an die politische Strategie der SPD. Die Partei habe mit dieser Nominierung bewusst eine "Zerreißprobe in der Union" in Kauf genommen. Da es in der Politik nicht um Wahrheit, sondern um Macht gehe, sei hier nun kluges Handeln gefragt. Er sieht die einzige Option in einem freiwilligen Rückzug der Juristin Brosius-Gersdorf.
Besorgnis aus Reihen der Kirche
Der Leiter des Katholischen Büros Berlin, Prälat Karl Jüsten, hat ebenfalls seine Sorge über die mögliche Wahl der Juristin ausgedrückt. "Wenn ein nach Entwicklungsstufe und Lebensfähigkeit des Menschen abgestuftes Lebensschutzkonzept vertreten und die Menschenwürde des ungeborenen Lebens infrage gestellt wird, bedeutet dies einen verfassungsrechtlichen Paradigmenwechsel", sagte Jüsten auf Anfrage der Katholischen-Nachrichten Agentur am Donnerstag in Berlin. Ein solcher Umbruch beschränke sich nicht auf den Schwangerschaftsabbruch, sondern könne Auswirkungen auf die Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens in verschiedenen Lebenssituationen haben.
Auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) äußerte sich zu der Personalie. ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp erklärte: "Dass eine Kandidatin für das Amt der Bundesverfassungsrichterin öffentlich erklärt, es gebe 'gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt', beunruhigt mich sehr." Und weiter: "Ich würde sie aufgrund dieser Position nicht wählen können."
Bischof Dieser mahnt zur Wahrung der Menschenwürde
Auch der Aachener Bischof Helmut Dieser mahnt angesichts des anstehenden Richterentscheids zur Wahrung der Menschenwürde. Der Erste Artikel des Grundgesetzes dürfe in keinem seiner beiden Aussageziele eingeschränkt werden. "Die Würde, die das Grundgesetz zuspricht, ist ganz und unteilbar," sagte Dieser. "Und kein menschliches Wesen darf zu irgendeinem Teil von dieser Würde ausgenommen werden."
Der Aachener Bischof appelliert deshalb an das freie Gewissen aller Abgeordneten des Deutschen Bundestages: "Bitte sorgen Sie durch Ihr verantwortliches Wahlverhalten dafür, dass der Konsens über diese uneingeschränkte Verfassungsgarantie in allen Organen des Staates erhalten bleibt!"
Dieser warnt vor einem Paradigmenwechsel, der zu schweren Beeinträchtigungen des Gemeinwohls führen würde. "Der demokratische Grundkonsens unserer Gesellschaft im Bewusstsein unantastbarer Werte, auf denen die Demokratie ruht, würde geschwächt", so Bischof Dieser.
Bundestag wählt neue Verfassungsrichter
In seiner Sitzung am Freitag soll der Bundestag über die Neubesetzung von drei Richterstellen am Bundesverfassungsgericht entscheiden. Die Unionsfraktion schlägt den bisherigen Richter am Bundesarbeitsgericht Günter Spinner vor. Die SPD hat die Jura-Professorinnen Frauke Brosius-Gersdorf und Ann-Katrin Kaufhold nominiert. Mit einem Wahlergebnis für Spinner ist ab dem späteren Vormittag zu rechnen. Das Ergebnis für die beiden SPD-Kandidatinnen, über die gleichzeitig, aber getrennt abgestimmt wird, wird für den frühen Nachmittag erwartet. Die Wahlen sind geheim.
Im Vorfeld gab es Diskussionen um zwei Punkte. So gibt es in den Reihen der Union Widerstand gegen Brosius-Gersdorf, da sie sich in der Corona-Pandemie für eine Impfpflicht eingesetzt hat und beim Thema Abtreibung aus Sicht mancher Unionsabgeordneter zu liberal ist. Zudem ist es möglich, dass die CDU/CSU bei der Wahl ihres Kandidaten auf Stimmen der AfD angewiesen sein könnte. Denn Gespräche mit der Linken lehnt die Unionsfraktion bislang ab. Die AfD-Fraktionsführung empfiehlt ihren Abgeordneten, Spinner zu wählen, und rät von der Wahl der beiden SPD-Kandidatinnen ab. Wenn die Linke nicht für Spinner stimmt, könnten AfD-Stimmen entscheidend werden.