Die Nominierung der von der SPD vorgeschlagenen Frau Prof. Frauke Brosius-Gersdorf für das Amt als Richterin am Bundesverfassungsgericht schlägt hohe Wellen. Der Wahlausschuss hatte am Montag für sie und für Günter Spinner (Vorschlag der CDU) und Ann-Katrin Kaufhold (Vorschlag der SPD) mit der dafür nötigen Zweidrittelmehrheit votiert. Am Freitag nun findet darüber die Abstimmung im Bundestag statt. Für die Bestellung ist auch hier eine Zweidrittelmehrheit der Anwesenden erforderlich, mindestens aber die Mehrheit aller Abgeordneten. Dafür sind auch Stimmen von Linken und AfD nötig. Frau Brosius-Gersdorf wird nun von Seiten des ZdK und mehrerer Bischöfe vorgeworfen, die Würde des ungeborenen Lebens in Frage zu stellen. Auch ihre früheren Forderungen nach einer Impfplicht in der Corona-Krise stoßen auf Kritik. Vor allem aber ihre öffentlichen Spekulationen über eine Menschenwürdegarantie erst ab Geburt sorgen auch in Kreisen der CDU für Unmut. Die notwendige Mehrheit im Parlament ist keineswegs sicher. Und womöglich scheitern dann auch andere Kandidaten. Der Schaden für Regierung und Stabilität der Demokratie wäre groß. Das wäre gerade Anlass zur Freude für Linke und AfD.
Der Streit um die inhaltlichen Äußerungen von Frau Brosius-Gersdorf ist öffentlich hinreichend eskaliert. Wesentliches sei dazu zunächst kurz klargestellt. Doch das soll hier nicht einfach nur wiederholt werden. Vielmehr muss es doch jetzt vor allem um die Frage gehen, wie jetzt doch noch der sich abzeichnende Schaden für das Land abgewendet werden kann.
Was sagt die Kirche?
Zunächst eine Klarstellung zu den diskutierten Aussagen: Die lebensethischen Positionen von Frau Brosius-Gersdorf sind aus christlicher Sicht nicht vertretbar. Das ist ganz offensichtlich und bedarf keiner weiteren Diskussion. Da helfen auch relativierende Beteuerungen der Jura-Professorin im Vorfeld der Wahl nichts, man müsse ihre früheren Aussagen ja jetzt ganz anders verstehen. Das Menschenbild ist der erste Anker jeder Ethik. Und das daraus folgende Verständnis der Menschenwürde ist das Fundament unseres Grundgesetzes. Wer wie sie meint, die Würde des ungeborenen Lebens sei ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss, der leugnet eindeutig, dass das menschliche Leben einen moralischen Wert aus sich heraus hat.
Der öffnet die Tür dafür, die Würde des Menschen grundsätzlich in Frage zu stellen und sie der Disposition von politischen o.a. Kräften auszusetzen. Gerade weil der Mensch aber aus sich heraus diese unteilbare Würde hat, ist das Gebot des Lebensschutzes gerade kein naturalistischer Fehlschluss. Vor allem Christen leuchtet das unmittelbar ein. Denn dieses moralische Wesen ist dem Menschen vom Schöpfer natürlich gegeben. Und auch Humanisten in der Tradition von Immanuel Kant u.a. können diese Unbedingtheit gut begründen. Frau Brosius-Gersdorf geht da offenbar nicht mit und kann deshalb weder aus den Reihen von Christen noch aus den Reihen von aufgeklärten Humanisten Unterstützung erwarten. Punkt.
Wie geht es nun weiter?
Nun aber zu der anderen Frage, die in der öffentlichen Diskussion zu kurz kommt. Was kann und sollte jetzt getan werden, um nicht noch weiter die Glaubwürdigkeit der Politik aufs Spiel zu setzen? Offenbar stehen hinter den Nominierungen ja Verhandlungen der Parteien um ihre Kandidaten. Wählst Du meinen Kandidaten, dann wähle ich auch Deinen, so die Logik. Das wurde auch von CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann offen zugegeben. Nun haben wir das Dilemma: Folgen die Christen in CDU und in den anderen Fraktionen bei der Abstimmung allein ihrem Gewissen, können sie Frau Brosius-Gersdorf nicht wählen. Das ist gesinnungsethisch die einzig mögliche Option. Doch in der Politik geht es ja nicht um Wahrheit, sondern um Macht. Und da sind verantwortungsethisch Kompromisse gefragt.
So kann dann argumentiert werden, wir stimmen zu, weil wir ansonsten unseren eigenen Kandidaten auch nicht durchbekommen. Oder weil bei einer Nichtwahl von Kandidaten der Schaden für das Land immens wäre. Und das wäre sozialethisch eben noch gravierender als die Verletzung des Gewissens. Für beide Entscheidungen gibt es also Gründe. Und doch sind beide Entscheidungen mit Übel verbunden: Entweder wird im Falle der Wahl das Gewissen über Bord geworfen, und die politische Glaubwürdigkeit gravierend beschädigt. Oder es wird bei einer Nicht-Wahl eine Destabilisierung des Landes in Kauf genommen.
Die Lösung aus diesem Dilemma ergibt sich aus dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts. Als höchstes juristisches Organ des Landes ist es allein dem Grundgesetz verpflichtet. Seine Aufgabe ist es also, auf der Grundlage dieses Gesetzes den Korridor für politische Legalität abzustecken. Dabei dürfen politische Interessen keine Rolle spielen. Das Gericht ist kein politisches Organ. Richterinnen und Richter sollen neutral entscheiden. Sie sollen sich durch ihre exzellente juristische Expertise auszeichnen und das bestehende Grundgesetz zum Wohle unseres Landes auslegen.
Dabei steht Art. 1 GG an oberster Stelle. Und der Schutz unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung im Sinne dieses Gesetzes. Nicht nur die Zukunft der Würde steht jetzt aber zur Disposition, sondern auch dieser Verfassungsauftrag. Die Personalie Brosius-Gersdorf spaltet die demokratischen Kräfte. Wir stehen in der Gefahr, amerikanische Verhältnisse zu bekommen, in denen mit Richterposten Parteipolitik gemacht wird. Die SPD hat mit dieser Nominierung bewusst die Zerreißprobe der Union in Kauf genommen. Dieses politische Kalkül schadet dem Amt und der Demokratie. Und auch der Kandidatin selbst, die zu einem Instrument solcher Interessen gemacht wird. Frau Prof. Brosius-Gersdorf kann das Dilemma lösen und noch den Schaden vom Land abwenden. Dazu sollte sie jetzt das Ruder selbst in die Hand nehmen und von der Nominierung zurücktreten. Das wäre ein großes Zeichen und Ausdruck staatstragender Verantwortung. Sie würde persönliche Ambitionen dem Gemeinwohl unterordnen und mit moralischem Anstand den politischen Drahtziehern ihr Spiel verderben. Das würde großen Respekt verdienen, auch von christlicher Seite.
Zum Autor: Prof. Dr. Dr. Elmar Nass hat den Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlichen Dialog an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT) inne. Als externer wissenschaftlicher Sachverständiger hat er am CDU-Grundsatzprogramm mitgewirkt.