DOMRADIO.DE: Was sollten die Leute in Deutschland über die aktuelle Situation in Ihrem Heimatland Myanmar wissen?
Rosalyn (Direktorin des Jesuit Refugee Service Myanmar und selbst Binnenflüchtling): Myanmar ist ein schönes Land mit großer kultureller Vielfalt. Aber im Moment müssen wir so viele Herausforderungen gleichzeitig bewältigen - die Grausamkeiten des Bürgerkriegs und seit diesem Frühjahr auch die Folgen des Erdbebens. Wir haben fast 3,6 Millionen Binnenvertriebene im Land, die wegen des Konflikts und der andauernden Unsicherheit ihr Zuhause verlassen mussten. Menschenrechtsverletzungen stehen bei uns auf der Tagesordnung.
DOMRADIO.DE: Inwieweit hat das schwere Erdbeben Ende März die Lage für die Menschen in Myanmar noch einmal verschlimmert?
Rosalyn: Dieses Erdbeben war eine zusätzliche Katastrophe zu all den anderen Problemen. Mit einer Stärke von 7,7 war es wirklich schwer. Um die 4.000 Menschen sind in der Folge ums Leben gekommen, Tausende Häuser wurden zerstört und die Infrastruktur massiv geschädigt - Krankenhäuser und Schulen genauso wie buddhistische Tempel und Klöster. Sehr viele Menschen haben wirklich alles verloren.
DOMRADIO.DE: Unter welchen Bedingungen leben die Binnenflüchtlinge und -vertriebenen?
Rosalyn: Wir verlassen unsere Häuser, um uns in Sicherheit zu bringen. Im Moment, würde ich sagen, ist es zwar nirgendwo in Myanmar sicher, aber wir haben keine Wahl und suchen nach einem Ort, der uns wenigstens etwas sicherer vorkommt. Das kann im Dschungel sein, bei Verwandten, in einem gemieteten Zimmer. So werden wir in alle Richtungen vertrieben, manche leben seit fast fünf Jahren schon unter schwierigsten Bedingungen im Dschungel, ohne Einkommen, ohne Möglichkeiten, ohne Bildungsmöglichkeiten für die Kinder. Das ist sehr zerstörerisch. Manche haben nicht mal Zugang zu frischem Wasser - und das bei Temperaturen bis zu 46 Grad. Andere haben sich in Klöster und Kirchen geflüchtet, die dann zerstört wurden. Denn das Militär nimmt auch öffentliche Orte unter Beschuss, weswegen es nirgendwo wirklich sicher ist. Wieder andere waren in Klöstern untergekommen, die dann beim Erdbeben eingestürzt sind. Die Leute sind also jeden Tag mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert.
DOMRADIO.DE: Sie sind selbst auch vertrieben worden…
Rosalyn: Meine Familie ist tatsächlich mehrfach vertrieben worden. Weil es bei uns zu Hause einfach zu gefährlich wurde, mussten wir alles zurücklassen. Dann wurde die nächste Unterkunft bombardiert und wir mussten wieder fliehen und dann wieder, insgesamt sechs Mal. Anderen Familien ist es ganz ähnlich ergangen, manche musste sogar noch öfter alles abbrechen und weiterziehen.
DOMRADIO.DE: Sie sind Sozialarbeiterin und Direktorin des nationalen Jesuit Refugee Service (JRS). Wie sieht Ihre Arbeit aus?
Rosalyn: Etwa 4,7 Millionen Kinder in unserem Land haben keinen Zugang zu Bildung und das schon seit Jahren. Deshalb kümmern wir uns darum, dass sie auch unter den äußerst schwierigen Bedingungen in Myanmar etwas lernen können. Vielen Eltern ist das eine Herzensangelegenheit, dass ihre Kinder trotz allem Unterricht bekommen und es eine Kontinuität bei ihrer Bildung gibt. Mit diesen Eltern arbeiten wir eng zusammen. Denn wir machen uns große Sorgen um die Zukunft unseres Landes, wenn die Kinder nicht zur Schule gehen können. Sie sind doch unsere Hoffnung. Daneben leisten wir auch Nothilfe, verteilen Essen und kümmern uns um Erdbebenopfer.
DOMRADIO.DE: Wie genau versuchen Sie, die Bildung aufrecht zu erhalten?
Rosalyn: Wir verteilen Unterrichtsmaterialien und schaffen Lernorte. Dafür bauen wir zum Beispiel zerstörte Schulen wieder auf oder suchen andere Gebäude, in denen Unterricht stattfinden kann. In manchen Gebieten, müssen Schulstunden an ständig wechselnden Orten stattfinden, weil die Militärs sie sonst gezielt angreifen würden. Die Kinder haben sich dort aus Angst nicht mehr in die Schule getraut und so haben wir zusammen mit den Eltern provisorische Räume geschaffen. Die meisten unserer Lehrerinnen und Lehrer sind Freiwillige aus den Dorfgemeinschaften, die meisten von ihnen sehr junge Leute. Sie wollen einfach ihr Bestes für ihre jüngeren Geschwister geben, für die Kinder und Jugendlichen. Wir bilden sie dafür aus. Die Lehrerausbildung ist also auch ein wichtiger Teil unserer Arbeit.
DOMRADIO.DE: Sie arbeiten für die Jesuiten, also eine katholische Ordensgemeinschaft. Katholiken sind in Ihrer Heimat mit etwa einem Prozent nur eine kleine Minderheit. Welche Rolle spielt die katholische Kirche für die Menschen in Myanmar?
Rosalyn: Die katholische Kirche spielt in Myanmar eine wichtige Rolle denn sie ist in den Konfliktzonen präsent. Wir als Kirche versuchen, so nah wie möglich bei den Menschen zu sein und sie so gut wie möglich zu unterstützen. Wie gesagt - wir kümmern uns um Bildung, um Nothilfe und auch um spirituellen und psychosozialen Beistand. Das ist das, was die Kirche tut. Und wenn ich von Kirche spreche, meine ich keine Gebäude, sondern ich meine Menschen. Unsere Diözese, unsere Kathedrale ist von den Militärs besetzt worden, der Bischof musste fliehen. Aber der Bischof ist jetzt eben dort, wo auch andere Vertriebenen sind und steht ihnen zur Seite. Wo immer wir also sind als Kirche, versuchen wir unser Bestes für die Menschen. Gemeinsam machen wir weiter, Tag für Tag.
DOMRADIO.DE: Steht denn die katholische Kirche auch im Fokus der Militärs?
Rosalyn: Viele Kirchen und kirchliche Gebäude sind angegriffen worden, genauso wie buddhistische Tempel. Die Militärs bombardieren also ganz gezielt religiöse Einrichtungen. Und was unsere Aktivitäten angeht: Wir sind sehr vorsichtig und arbeiten ganz niedrigschwellig mit den Leuten in den Dorfgemeinschaften zusammen.
DOMRADIO.DE: Was gibt Ihnen angesichts all dieser Schwierigkeiten Hoffnung?
Rosalyn: In der aktuellen Situation in Myanmar Hoffnung zu finden, fällt wirklich schwer. Ich finde keine Hoffnung in der Politik und auch nicht in den großen Versprechen. Aber ich finde Hoffnung in der Widerstandsfähigkeit der Leute. Und natürlich sind die Kinder unsere Hoffnung. Wenn ich sehe, wie die Mädchen und Jungen lernen, wie sie lächeln, wie sie sich gegenseitig helfen, gibt mir das Kraft und Hoffnung.
DOMRADIO.DE: Welche Unterstützung bekommen Sie aus Deutschland?
Rosalyn: Das katholische Hilfswerk missio und die Erzdiözese Köln unterstützen uns sehr bei unserer Bildungsarbeit und genauso bei der Erdbebenhilfe. Dafür sind wir den Menschen in Deutschland sehr dankbar.
DOMRADIO.DE: Haben Sie eine Botschaft für die Menschen hier in Deutschland, besonders die jungen Menschen?
Rosalyn: Ich würde Ihnen sagen: Ihr habt Glück, dass ihr in einem Land lebt, in dem ihr frei eure Meinung sagen könnt. Seid euch darüber bewusst, seid dankbar dafür und macht das Beste daraus, was ihr könnt. Und denkt bitte nicht nur an euch selbst und an euer Land, sondern an das Wohl aller Menschen auf der ganzen Welt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.