"Ich erinnere mich noch an die Nachricht, dass unser Dorf von Serben überfallen und besetzt wurde. Die Menschen dort wurden getötet", erzählt Pfarrer Šimo Maršić, der aus dem Nordosten Bosnien-Herzegowinas in der Nähe der kroatischen Grenze stammt. Als der Krieg in seiner Heimat ausbrach, studierte er Theologie in Istrien. Erst Tage später erfuhr er, dass seine Familie überlebt hatte. Dazwischen lagen Tage der Ungewissheit, kaum jemand besaß in den 1990er-Jahren Internet, es gab keine Handys und Telefonate über das Festnetz waren schwierig.
Darum verbreiteten sich auch die Nachrichten aus Srebrenica deutlich langsamer: Am 11. Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Einheiten die Stadt unter Führung des Militärchefs Ratko Mladić ein und ermordeten in den darauffolgenden Tagen über 8.000 muslimische Bosniaken, Männer und Jungen. Der Ort nahe der Grenze zu Serbien war eine UN-Schutzzone für bosnische Muslime gewesen, doch die Blauhelm-Soldaten waren zahlenmäßig unterlegen und hatten kein Mandat für den Einsatz von Waffen. So blieben sie untätig, während serbische Truppen vor ihren Augen eines der schlimmsten Massaker seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa begingen. "Es war unbegreiflich, eine Tragödie", erzählt Pfarrer Maršić. "Wir hatten uns auf die UN-Truppen verlassen. Wir dachten, das ist das Ende! Es war absolut hoffnungslos!"
Alte und neue Nationalismen
Das Massaker war tragischer Höhepunkt eines Krieges zwischen Menschen, die im Jugoslawien unter Tito Jahrzehnte lang Tür an Tür zusammengelebt hatten. "Der extreme Nationalismus verbreitete sich wie ein Virus, sodass aus Nachbarn Feinde wurden", erklärt Prof. Thomas Schwartz, Geschäftsführer des katholischen Osteuropa-Hilfswerkes Renovabis. Auch die serbisch-orthodoxe Kirche spielte dabei eine unrühmliche Rolle. Sie nahm Kriegsverbrecher in Schutz und schenkte Mördern ihren Segen. Ihre Vertreter unterstützten öffentlich Serbenführer Slobodan Milošević und glorifizierte seine Ideen von einem Großserbien. Damit trug die Kirche zur Eskalation bei.
"Religion wird leider immer wieder instrumentalisiert", so Schwartz weiter. Die orthodoxe Kirche in Serbien, die sich auch als Nationalkirche versteht, sei da in besonderer Weise gefährdet. Noch im vergangenen Jahr hatte der orthodoxe Patriarch Porfirije Perić eine UN-Resolution abgelehnt, die den 11. Juli zum internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord von Srebrenica erklärt. Die Welt habe vergessen, dass auch Serben im 20. Jahrhundert Opfer von Verfolgung geworden seien, sagte er damals.
"Eine Beleidigung für die Opfer"
Diese Denkweise ist heute – 30 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica – verbreitet: Präsident Aleksandar Vucic hat Serbien in eine Autokratie verwandelt, in der auch Ex-General Ratko Mladic, der für das Massaker in Srebrenica verantwortlich war, öffentlich als Held glorifiziert wird. Milorad Dodik, der Präsident des vor allem von Serben bewohnten Teilstaates Republika Srpska, relativiert die Opferzahlen und bestreitet, dass es in Srebrenica einen Völkermord gegeben hat.
Diese Entwicklungen beobachtet man bei Renovabis in Freising mit Sorge: "Eine gefährliche Situation", erklärt Schwartz. "Die Leugnung des Genozids ist eine Beleidigung der Opfer. Sie verhindert jede Versöhnung und jedes friedliche Miteinander." Für besonders problematisch hält er den Einfluss auf die jungen Menschen: "Sie werden seit 20 Jahren von diesem Nationalismus beeinflusst, sie sind größere Nationalisten als diejenigen, die vor 30 Jahren den Völkermord begingen."
Das beobachtet auch Šimo Maršić, der heute Jugendseelsorger im Erzbistum Vrhbosna in Sarajewo ist und als Professor für Pastoraltheologie an der Universität lehrt. "Eines der Ergebnisse des Friedensabkommens von Dayton 1995 war, dass die verschiedenen Volksgruppen in ethnisch getrennten Regionen leben. Die jungen Leute haben keine Chance, sich gegenseitig kennenzulernen", erzählt er. Die katholische Kirche versucht zu vermitteln: Insgesamt 14 multiethnische Schulen hat sie im ganzen Land aufgebaut, die sowohl katholische als auch orthodoxe und muslimische Kinder besuchen. Es gibt auch Jugendzentren und Ferienlager und in einem interreligiösen Studiengang an der Universität von Sarajewo lernen Studierende aller Konfessionen gemeinsam.
Botschaft von Papst Franziskus
"Wir schaffen Orte, wo die zukünftigen Generationen das Zusammenleben wieder lernen und etwas über die Geschichte der jeweils anderen erfahren. Nur so können wir Vorurteile und transgenerationale Traumata überwinden. Von alleine passiert das nicht", sagt der Jugendseelsorger. Keine einfache Aufgabe in einem Klima wiedererstarkender Nationalismen. "Aber das ist unsere Mission", sagt Maršić: "Als uns Papst Franziskus 2015 besuchte, forderte er uns auf, Brücken zu bauen." Unterstützung dafür kommt auch von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Hilfswerk Renovabis.
Aber auch die Europäische Union sei gefordert, sagt Geschäftsführer Thomas Schwartz. Bosnien und Herzegowina brauche endlich eine Beitrittsperspektive: "Das Land muss innerhalb Europas ein Zuhause finden, es ist eine klaffende Wunde in unserem Kontinent. Sonst wird es in dieser Region keinen Frieden geben."
Schwartz wird für die Deutsche Bischofskonferenz an den Gedenkfeierlichkeiten am 11. Juli in Srebrenica teilnehmen. Dieser 30. Jahrestag sei für ihn "ein Tag der Demut", sagt er, "denn Srebrenica steht auch für das Versagen der Weltgemeinschaft." Auch wenn die Zeichen in der Region gerade nicht auf Verständigung stehen, werde man nicht müde, für den Dialog zu werben: "Wir dürfen nicht aufhören, Menschen guten Willens zusammenzubringen, damit sie in ihre Gesellschaften hineinwirken. Es geht nicht um Rache, sondern um den Aufbau einer Zukunft für die nachfolgenden Generationen. Es geht um den Samen der Menschlichkeit, für den wir als Kirche stehen."