Justitia et Pax sieht wachsende Belastungen in der Ukraine

"Ein riesiges nationales Trauma"

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist zwei Jahre her. Stefan Lunte von Justitia et Pax kommt gerade von einem Solidaritätsbesuch in Lwiw zurück. Im Interview berichtet er, wie die Lage im Land die Bevölkerung zunehmend belastet.

Ein Kruzifix zwischen Ruinen in Lwiw (dpa)
Ein Kruzifix zwischen Ruinen in Lwiw / ( dpa )

DOMRADIO.DE: Sie waren mit den beiden Co-Präsidenten von Justitia et Pax Europa, einem Zusammenschluss der 30 europäischen Justitia et Pax-Kommissionen der römisch-katholischen Kirche in Lwiw und haben dort ihre ukrainische Partnerkommission von Justitia et Pax besucht. Was für eine Situation haben Sie dort vorgefunden?

Stefan Lunte ist der Generalsekretär von Justitia et Pax Europa. / © Julia Steinbrecht (KNA)
Stefan Lunte ist der Generalsekretär von Justitia et Pax Europa. / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Stefan Lunte (Generalsekretär von Justitia et Pax Europa): Es ist gar nicht so leicht zu beschreiben, sage ich ganz ehrlich. Wir kamen tief in der Nacht an, um 4:00 Uhr morgens sind wir über die polnisch-ukrainische Grenze zu Fuß gegangen. Da war noch Ausgangssperre.

Es durften nur Autos mit besonderer Autorisierung über die Straße fahren. Es war menschenleer und abgedunkelt und fast unwirklich. Und dann am nächsten Morgen auf dem Campus der Katholischen Universität der Ukraine, aber auch in der Stadt, ging es zu wie fast in jeder anderen europäischen Großstadt. 

Stefan Lunte

"Das sind sehr, sehr widersprüchliche Eindrücke." 

Lwiw hat 800.000 Einwohner, eine ganz junge Bevölkerung, 100.000 Studierende. Also, Sie müssen sich ein relativ normales Stadtleben vorstellen. Nicht unbeschwert, würde ich sagen, aber ein normales Leben. 

Und dann fahren Sie an Häusern vorbei, mit großen von Raketen geschlagen Löchern. Wir sind auch auf einen der Militärfriedhöfe der Stadt gegangen, wo seit Beginn des Krieges im Februar 2022 700 Gräber ausgehoben wurden. Das sind sehr, sehr widersprüchliche Eindrücke. Und diese Widersprüche durchziehen das Land zurzeit.

Stefan Lunte

"Es gibt eine Form von Alltag, aber es ist ein Kriegsalltag. Immer wieder ertönt Alarm."

DOMRADIO.DE: Ist denn wieder also eine Form von Alltag eingekehrt?

Lunte: Es gibt eine Form von Alltag, aber es ist ein Kriegsalltag. Immer wieder ertönt Alarm. Dann begeben sich die Leute in die Bunker, aber auch nicht alle. Es hängt von der Art des Alarms ab. 

Freunde und Verwandte besuchen das Grab eines ukrainischen Soldaten auf einem Friedhof in der Ukraine / © Bernat Armangue/AP (dpa)
Freunde und Verwandte besuchen das Grab eines ukrainischen Soldaten auf einem Friedhof in der Ukraine / © Bernat Armangue/AP ( dpa )

Die Menschen haben einen Kurznachrichtendienst, auf dem mitgeteilt wird, welche Form von Alarm es ist und um welche Form von Waffen es sich handelt, die angeflogen kommen. Je nachdem entscheiden sie dann kurzfristig, ob sie doch noch in den Bunker gegen. Aber viele tun es einfach nicht mehr.

DOMRADIO.DE: Jetzt hat sich die Welt weitergedreht in diesen zwei Jahren. Der Gazakrieg ist in den Schlagzeilen. Hier bei uns sind die Lebenshaltungskosten gestiegen. Wie wirkt sich das auf das Leben der Ukraine aus?

Lunte: Ja, auch da würde ich sagen, es gibt vor allen Dingen große Schwierigkeiten für die im Land Geflüchteten. Die müssen versorgt werden, die sind materiell auch nicht gut versorgt. Die Löhne sind natürlich sehr, sehr niedrig. 

Alle öffentlichen Investitionen sind eingestellt, weil alles für die Kriegsausgaben reserviert ist. Also man merkt, dass die Einrichtungen der Infrastruktur nicht mehr so gepflegt werden können wie vorher, und dass die Kriegswirtschaft sehr teuer zu stehen kommt.

DOMRADIO.DE: Justitia et Pax Europa wirbt fast seit Beginn des Krieges für einen konstruktiven Umgang mit Ängsten. Wie sieht es da mit der Umsetzung aus?

Stefan Lunte

"Es gibt die Verschwundenen und Gefallenen. Es gibt die Geflüchteten. Und es gibt innere Spannungen im Land."

Lunte: Justitia et Pax sagt immer auch, dass die Ukraine das Recht hat, sich zu verteidigen; dass sie unsere Hilfe in jeder Form braucht. Das ist das eine. 

Katholische Hilfsorganisation Caritas Ukraine verteilt Nahrungsmittel an Bedürftige in Charkiw. / © Drop of Light (shutterstock)
Katholische Hilfsorganisation Caritas Ukraine verteilt Nahrungsmittel an Bedürftige in Charkiw. / © Drop of Light ( shutterstock )

Aber wir haben eben auch gerade im Gespräch mit der Direktorin der Caritas Ukraine festgestellt, wie sehr diese Traumata inzwischen auch die Menschen belasten:

Es gibt Kinder, Jugendliche, deren Eltern oder deren Väter verschwunden sind, die gestorben sind, die im Krieg gefallen sind. Es gibt die Geflüchteten. Und es gibt die inneren Spannungen im Land zwischen Russophoben und Ukrainophoben. Da merkt man ein riesiges nationales Trauma, das sich aufbaut. 

Und es ist schon gut zu wissen, dass eine Einrichtung wie Caritas Ukraine sich daran begibt, mithilfe von Spenden aus der ganzen Welt entsprechende psychosoziale Beratung aufzubauen. Das ist nicht einfach, aber das geschieht zurzeit und ich glaube, das ist sehr, sehr wichtig.

DOMRADIO.DE: Justitia et Pax wirbt auch immer dafür, dass Christen Verantwortung übernehmen müssen. Was bedeutet das? Wie sieht die Übernahme von Verantwortung in Sachen Ukraine aus?

Stefan Lunte

"Wir können spenden und wir können dafür beten, dass es zu einem gerechten Frieden kommt."

Lunte: Das erste ist, glaube ich, die Wahrheit nicht zu verdrehen. Es gibt zwei Länder. Und eines wurde brutal angegriffen, überfallen. Das dürfen wir nicht vergessen und das ist das Wichtigste. Das müssen wir in allen Gesprächen, auch als Christen, immer wieder in den Vordergrund stellen.

Frau im Gebet (shutterstock)

Das Zweite ist, dass wir auch ganz konkret helfen können. Es gibt Renovabis, es gibt die Caritas, man kann spenden, man kann gerade auch in der Fastenzeit noch mal einen zusätzlichen Beitrag leisten. Man kann auch ganz einfach dafür beten, gerade in dieser Fastenzeit, dass dieser Krieg an ein Ende und dass es zu einem gerechten Frieden kommt. 

Dass die Menschen, die in der Ukraine leben, gerade auch die vielen Helfenden im psychosozialen Bereich – in der Caritas, in der griechisch-katholischen Kirche, der römisch-katholischen Kirche –  den Mut nicht verlieren.

Das Interview führte Heike Sicconi. 

Deutsche Kommission Justitia et Pax

Die Deutsche Kommission Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden) wurde 1967 gegründet und versteht sich als Forum der katholischen Einrichtungen und Organisationen, die im Bereich der internationalen Verantwortung der Kirche in Deutschland tätig sind. Justitia et Pax ist deren gemeinsame Stimme in Gesellschaft und Politik und damit Akteurin des politischen Dialogs. Darüber hinaus ist die Deutsche Kommission Bestandteil eines weltweiten Netzwerkes nationaler und regionaler Justitia-et-Pax-Kommissionen.. (Justitia et Pax)

Justitia steht für Gerechtigkeit  / © Daniel Reinhardt (dpa)
Justitia steht für Gerechtigkeit / © Daniel Reinhardt ( dpa )
Quelle:
DR