DOMRADIO.DE: Die Gründung des jüdischen Journalistenverbands ist eine Reaktion auf den Terroranschlag am 7. Oktober 2023 in Israel. Wie blicken Sie seit Kriegsbeginn auf die Nahostberichterstattung?
Lorenz Beckhardt (Vorsitzender des Verbands Jüdischer Journalistinnen und Journalisten): Da muss man differenziert draufschauen. Ich glaube, die Nahostberichterstattung in den deutschen Qualitätsmedien - nicht nur Radio und Fernsehen, sondern auch im Printbereich und Online - ist im Großen und Ganzen sehr ernsthaft und fair.
Es gibt aber immer wieder Ausreißer, in manchen Medien sogar häufigere Ausreißer. In denen gerät beispielsweise der Ausgangspunkt dieses aktuell sehr schweren Krieges in Gaza völlig aus dem Blickfeld. Dann wird zum Beispiel über Zehntausende von Toten, Bombardierungen und Auseinandersetzungen berichtet, bei der sehr viele unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten sterben.
Der Ausgangspunkt am 7. Oktober 2023 mit dem Massaker an Israelis an der Grenze zum Gazastreifen, bei dem an diesem einen Tag mehr Jüdinnen und Juden ermordet wurden als durchschnittlich an einem Tag in Auschwitz, gerät oft in der Berichterstattung völlig an den Rand. Teilweise wird er nicht mehr erwähnt. Das ist etwas, das man journalistisch nicht als saubere Berichterstattung bezeichnen kann.
DOMRADIO.DE: Welche Zielsetzung hat Ihr Journalistenverband dahingehend?
Beckhardt: Wir wollen explizit kein Medienwächter sein. Wir kämen nicht hinterher, wenn wir jeden Tag die Medien beobachten wollten und immer wieder öffentlich intervenieren.
Aber wir werden versuchen, weil wir eben journalistische Profis sind, dass journalistisches Handwerk und journalistische Fairness in der Berichterstattung über den Nahostkonflikt in Deutschland, Österreich und der Schweiz eingehalten werden.
Die beruflichen Regeln werden immer wieder verletzt. Darauf müssen wir schauen. Aber es ist nicht so, dass Antisemitismus und der Umgang damit unser Schwerpunktbereich ist. Wir wollen genauso sehr jüngere Mitglieder, die sich uns anschließen, in ihrem Berufsleben und Berufsumfeld unterstützen.
In der Folge des 7. Oktobers hat sich bei uns extrem viel verändert. Antisemitismus ist explosionsartig angestiegen und zwar nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Viele junge Kolleginnen und Kollegen, die in ihrem Beruf noch nicht so gefestigt sind, sondern in einer gewissen Unsicherheit leben, haben zurzeit wahnsinnig viel seelischen, praktischen und materiellen Stress.
DOMRADIO.DE: Welche antisemitischen Stereotype und Klischees begegnen Ihnen immer wieder in deutschen Medien und im Alltag?
Beckhardt: Ich greife mal auf ein Beispiel zurück, das nicht direkt eine mediale Berichterstattung, sondern eine Versammlung von vielen Journalistinnen und Journalisten war. Gestern hat eine außerordentliche Mitgliederversammlung des PEN Berlins stattgefunden, zu deren Gründungsmitgliedern ich gehöre. Man wollte sich eine Meinung zum Gazakrieg bilden, vor allem zu den getöteten Journalistinnen und Journalisten dort.
Es hat ein stundenlanger harter Meinungskampf darüber stattgefunden. Mit einer Stimme mehr hat eine Resolution die Mehrheit bekommen, die die Hamas wenigstens ansatzweise mitverantwortlich für das macht, was in Gaza passiert und den 7. Oktober ursächlich erwähnt.
Das heißt umgekehrt, die Hälfte der dort Anwesenden - und das ist für mich als Jude und als Kind von Holocaustüberlebenden sehr schockierend mitzuerleben - wollte einseitig, ohne Nennung des 7. Oktobers und ohne Zuweisung von Verantwortung an die Hamas, Israel für den gesamten Konflikt verantwortlich machen.
Wir wissen aus Studien, dass es in der deutschen Bevölkerung ein manifestes antisemitisches Weltbild gibt, das ungefähr 20 Prozent der Menschen teilen. Wenn gestern 20 Prozent der Menschen diese extreme Position dort eingenommen hätten, dann hätte ich das schon als normal abgehakt. Aber fast 50 Prozent, nimmt mich heute noch mit.
DOMRADIO.DE: Ist es einer Ihrer Ansätze, jüdische Werte und Positionen zu gesellschaftlichen Themen bekannter zu machen?
Beckhardt: Darüber haben wir intern noch nicht gesprochen. Wir sind noch in der Gründungsphase. Aber es gibt bei jüdischen Fragen eine extrem große Pluralität. Wir haben von einer sehr orthodoxen Haltung, über eine liberale, bis zu einem großen Teil von Jüdinnen und Juden, die sehr säkular leben, alles. Für letztere ist die Religion mehr ein kultureller, familiärer und ethnischer Raum und weniger ein streng religiöser.
Insofern wird es schwierig sein, die jüdischen Werte zu einer Streitfrage zu liefern. Wir haben da eine Bandbreite. Ich würde das nicht ausschließen, aber da müssen wir uns noch ein Stück weit qualifizieren. Wir sind schließlich keine Rabbinerinnen und Rabbiner.
Das Interview führte Tobias Fricke.