DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie aktuell die Situation in Jerusalem?

Dr. Dietrich Bäumer (Leiter der Schmidt-Schule in Ostjerusalem): Es gibt hier vor allem nachts ständig Luftangriffe. Seit dem ersten Angriff der Israelis auf den Iran müssen wir uns drei bis vier Mal pro Nacht in den Luftschutzkeller gegeben. Was wir jetzt erleben, ist noch einmal eine andere Qualität als die Raketenangriffe der Hamas von Gaza aus zu Beginn dieses Krieges, sofern man in diesem Zusammenhang von Qualität sprechen will.
Die Raketen, die der Iran jetzt herüberschießt, haben eine deutlich stärkere Zerstörungs- und Sprengkraft. Das belegen die traurigen Bilder, die Sie sicher alle im Fernsehen gesehen haben. Insgesamt erinnert die Situation in gewisser Hinsicht auch an die Zeit der strengen Corona-Lockdowns.

Das Leben ist weitgehend heruntergefahren. Viele Geschäfte sind geschlossen, die Altstadt ist gesperrt. Ausschließlich Bewohner können die Altstadt derzeit betreten und wieder verlassen. Außerdem herrscht ein Versammlungsverbot.
Das wird auch die Veranstaltungen der kommenden Tage betreffen wie zum Beispiel das Fronleichnamsfest am Donnerstag. Auch die Gebete an der Klagemauer sind im Moment eingeschränkt oder gar nicht möglich.
DOMRADIO.DE: An Ihrer Schule unterrichten Sie über 500 Mädchen muslimischen und christlichen Glaubens. So sind Sie in Kontakt mit Familien unterschiedlichen Hintergrundes. Wie kommen die Familien beziehungsweise die Schülerinnen mit dieser schweren Situation zurecht?
Bäumer: Wir sind tatsächlich im Kontakt mit den Familien unserer Lehrkräfte und unserer Schülerinnen. Was sie uns zurückmelden, ist besorgniserregend. Die Kinder sind unruhig und nervös, sie leiden unter Konzentrationsstörungen und vor allem die Kleineren haben natürlich viele Ängste.

Zum einen machen ihnen die Bilder Angst, die sie in den Sozialen Medien und im Fernsehen sehen. Außerdem hören sie immer wieder die Detonationen explodierenderen oder abgeschossene Raketen im Hintergrund. Das wühlt die Kinder verständlicherweise auf; viele erschrecken zutiefst, manche geraten gar in Panik.
Seit Freitag haben wir keinen Präsenzunterricht mehr; in den Onlinestunden versuchen wir, mit den Schülerinnen überhaupt in Kontakt zu kommen und mit ihnen über ihre Ängste, Probleme und Sorgen zu sprechen.
Da ist der Unterricht erst einmal zweitrangig. Tatsächlich ist das Schuljahr ohnehin fast zu Ende, es fehlt eigentlich nur noch die Zeugnisvergabe. Normalerweise wäre das reguläre Schuljahresende am kommenden Mittwoch, dem 25. Juni. Jetzt denken wir darüber nach, dieses Ende vorzuverlegen.
DOMRADIO.DE: Leisten Sie im Moment in erster Linie psychologische Unterstützung?
Bäumer: Wir versuchen in der Tat, die Mädchen psychologisch und teils auch seelsorglich zu unterstützen. Dabei berücksichtigen wir, dass je nach Altersstufe auch recht unterschiedliche Sorgen und Nöte, Probleme und auftreten. Um diese abzufedern sind auch unsere Schulsozialarbeiterinnen da.

Eine von ihnen kümmert sich in der Grundschule besonders um die die Kleinsten, weitere Sozialarbeiterinnen sind für die älteren Jahrgänge da. Unsere Abiturientinnen haben die Schule bereits im Mai unter damals noch halbwegs friedlichen Umständen verlassen.
Aber in den anderen Klassen versuchen wir, die Mädchen da abzuholen, wo sie in diesem Moment stehen, ihre Sorgen und Nöte ernst zu nehmen und aufzufangen. Wenn darüber hinaus noch Zeit bleibt, können wir zur Ablenkung auch thematisch am Unterrichtsstoff weiterarbeiten.
Ich habe die Kolleginnen und Kollegen gebeten, mit Feingefühl darauf zu achten, was den Schülerinnen in dieser Situation zuzumuten ist, was sie überhaupt leisten können. Wenn sich herausstellt, dass das Konzentrationsvermögen sinkt, können wir nicht daran festhalten, trotzdem unbedingt weiter Unterrichtsstoff vermitteln zu wollen. Darüber sind wir uns im Kollegium einig.
DOMRADIO.DE: Sie unterrichten an der Schmidtschule Schülerinnen muslimischen und christlichen Glaubens. Spielen da auch religiöse Konflikte eine Rolle?
Bäumer: Aus meiner Sicht ist das erfreulich selten der Fall. Sicher gibt es hier und da auch Unstimmigkeiten, von denen wir natürlich auch nicht alles mitbekommen. Denn ich bin nun in der Leitung der Schule tätig und gebe daher selbst nur eine reduzierte Anzahl von Stunden. Aber in den Klassen, in denen ich selbst unterrichte, erlebe ich keine aufbrechenden Konflikte.

Dagegen gibt es immer wieder einmal Diskussionen und wir wollen hier auch keine Denkverbote. Wir möchten, dass wir hier offen und ehrlich miteinander umgehen. Zu unserem Schulprofil gehört, dass wir eine offene, auf demokratischen Werten basierende Erziehung leisten, die ideologiefrei ist. Dazu stehen wir, das wollen wir auch weiter so halten. Und das funktioniert. Die Mädchen gehen im Dialog respektvoll miteinander um, so wie es dem Selbstverständnis unserer Schule entspricht.
DOMRADIO.DE: Sie arbeiten in einer äußerst konfliktreichen Region und sind jetzt sozusagen im Herzen der Eskalation des Nahost-Konflikts. Was können Sie als Schule tun, um Hass vorzubeugen?
Bäumer: Wir versuchen auf der Grundlage unserer wertebasierten Erziehung Hass von vornherein zu verhindern. Wir haben klare Grundsätze über die Art und Weise, wie wir hier miteinander umgehen wollen. Ich sage nicht, dass das immer hundertprozentig gelingt; aber wir fordern es mit Nachdruck von allen am Schulleben Beteiligten immer wieder ein.
Unsere Rolle ist dabei nicht die politische Vorgänge zu beurteilen. Es ist natürlich manchmal schwer, das aus dem Alltag herauszuhalten; das gelingt auch nicht immer. Aber wir bieten immer die Gelegenheit für Gespräche. Wir hören zu. Wir hören uns auch Dinge an, die schwierig sind.
Es ist uns wichtig, dass die Schülerinnen das äußern können, was sie fühlen und denken. Zum Profil unserer katholischen Schule gehört schließlich schon seit 1886 nicht nur unsere christliche Grundüberzeugung. Es ist uns vielmehr gerade in diesem Kontext unserer wichtigsten Anliegen, den Dialog zu fördern. Dazu gehört auch der interreligiöse Dialog voll gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Respekt.
DOMRADIO.DE: Wie blicken Sie auf die kommenden Tage, die Tage voller Ungewissheit sind?
Bäumer: Wir leben von Tag zu Tag. Daran sind wir im Grunde seit dem 7. Oktober gewohnt. Wir haben diesen Krieg von Anfang an erlebt, auch wenn die Bomben, Granaten und Raketen eingangs vielleicht weniger aggressiv waren und weniger Sprengkraft hatten als jetzt.
Aber - so traurig es vielleicht klingt - wir sind im Umgang mit solchen Situationen geschult. Wir gehen mit vielem anders um. Vielleicht geraten wir weniger in Panik, vielleicht haben wir weniger Angst. In Jerusalem selbst können wir uns wohl auch wirklich etwas sicherer fühlen als anderswo in Israel. Das jedenfalls legen die bisherigen Zerstörungen nahe. Das gibt uns ein wenig Halt und Zuversicht.
Ansonsten versuchen wir jetzt das Schuljahr zeitnah zu Ende zu bringen. Es wäre mir persönlich ein Herzensanliegen, mit einer Online-Veranstaltung unsere Kolleginnen und Kollegen, die nach Deutschland zurückkehren, würdig zu verabschieden. Wir möchten uns bei all denen bedanken, die sich hier in dieser schweren Zeit seit Kriegsbeginn in besonderer Weise engagiert und die Schule am Laufen gehalten haben. Sie haben unseren Respekt verdient.
Dieses Interview führte Hilde Regeniter.