Ukrainischer Bischof mahnt am Gedenktag zur Versöhnung

Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

80 Jahre nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion ruft der ukrainische Bischof Dzyurakh Europa auf, sich nachdrücklich um Versöhnung mit den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zu bemühen. Da gebe es noch Nachholbedarf.

Überfall auf die Sowjetunion am 22.06.1941 / © akg-images GmbH (epd)
Überfall auf die Sowjetunion am 22.06.1941 / © akg-images GmbH ( epd )

Renovabis: Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?

Bischof Bohdan Dzyurakh (Redemptorist, Exarch der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche für Deutschland und Skandinavien in Deutschland): Die Erinnerung bezieht sich vor allem auf die betroffenen Menschen. Es geht darum, jeden einzelnen Opfers dieses schrecklichen Krieges zu gedenken. Jede Person, die Menschlichkeit in der unmenschlichen Zeit gelebt hat, gilt es zu ehren. Und: Die Täter dieses Übels müssen beim Namen genannt werden. Die Würde vieler einzelner Menschen und der gesamten Menschheit wurde durch Verbrechen des Krieges angegriffen. Durch die betende und verantwortliche Erinnerung wird sie wiederhergestellt.

Eine sehr wichtige Aufgabe besteht darin, die ganze Wahrheit über die Umstände und die Ursachen des Krieges zu entdecken und anzunehmen. Es ist ja bekannt, dass die Wahrheit sehr oft zum ersten Opfer des Krieges gemacht wird. Deshalb wurde in der Ukraine gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion ein mühsamer Prozess der Reinigung der historischen Erinnerung begonnen, der längst noch nicht zu Ende ist. Es geht vor allem um die Entdeckung und um die Wahrnehmung der vollen Wahrheit, was den Beginn und die Ursachen des Zweiten Weltkrieges angeht.

Und es geht auch um die Beseitigung der zahlreichen Geschichts-Fälschungen, die von der sowjetischen Propaganda jahrzehntelang sowohl innerhalb des sowjetischen Staates als auch im Ausland sehr systematisch verbreitet worden sind. In diesem Zusammenhang wird in der unabhängigen Ukraine immer mehr vom "Zweiten Weltkrieg" gesprochen, dem Begriff, der einen viel breiteren Zeitraum umfasst, als nur den vom sowjetischen Regime genutzten Begriff des Großen Vaterländischen Kriegs", der sich auf das Datum von 22. Juni 1941 bezieht.

Es bleibt für viele damaligen Anhänger und heutigen Sympathisanten des stalinistischen Systems eine sehr unangenehme historische Tatsache zu erfahren oder zu entdecken, dass nicht nur das Nazi-Regime für den Beginn des Zweiten Weltkrieges verantwortlich ist, sondern auch der stalinistische sowjetische Staat. Der Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939, auch als Hitler-Stalin-Pakt bekannt, mit seinem geheimen Zusatzprotokoll, ist das entscheidende historische Zeugnis dafür. Nicht umsonst sagen manche bei uns in der Ukraine, dass der Nürnberger Prozess die Verlierer bestraft hat, nicht aber alle Schuldigen und Verantwortlichen für diese ungeheure Tragödie der gesamten Menschheit im vergangenen Jahrhundert.

Bedauernswerter Weise bleiben noch viele Menschen auch heute gefangen in ideologischen Klischees weiterhin andauernder Propaganda. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass während in ganz Europa die Menschen guten Willens im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg sagen "Nie wieder!", in einem anderem Land, das sich über den Status des Siegers rühmt, auch ein anderer Slogan öfter wiederholt wird: "Mozhem powtorit´ - Wir können es wiederholen!". Das ist ein sehr beunruhigendes Beispiel einer von Ideologie geprägten und vergifteten Erinnerung, die eher neuen Schaden als die Heilung der alten Wunden bringt. Jesus sagt im Evangelium: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien" (Joh 8, 32). Deshalb denke ich, dass sowohl in den postsowjetischen Ländern als auch in ganz Europa noch sehr viel zu tun bleibt, um zu vollen Wahrheit zu gelangen und zur endgültigen Befreiung der vom Zweiten Weltkrieg betroffenen Völker und Ländern Europas beizutragen.

Renovabis: Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Die heutige Generation trifft keine Schuld für die Verbrechen der Vergangenheit, sie ist aber verantwortlich dafür, dass sich die Spirale der Gewalt nicht erneut dreht. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?

Dzyurakh: Lassen Sie mich auf zwei Tatsachen hinweisen: Erstens, gilt als Voraussetzung für jede Versöhnung die entsprechende Bereitschaft aller Beteiligten an dem blutigen Konflikt: Die Täter und Verursacher müssen sich zu ihrer Schuld bekennen und Verantwortung gegenüber den Menschen und den Völkern übernehmen. Zweitens: Die Opfer müssen sich zu einem mutigen Akt der Verzeihung und der Barmherzigkeit entscheiden, um sich von den schrecklichen Erlebnissen zu befreien und einen neuen Anfang zu wagen. Hier gelten die Worte von Papst Johannes Paul II.: "Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung".

Außerdem, wenn man an den deutschen Angriff auf die Sowjetunion denkt, muss auch immer wieder daran erinnert werden, dass kein abstraktes "sowjetisches Volk" zum Opfer des Zweiten Weltkrieges wurde, das nur in den Köpfen der damaligen kommunistischen Ideologen existierte. Es war ebenso wenig ein "sowjetisches Volk" oder die Vertreter eines Staates, der sich zum Nachfolger der Sowjetunion erklärt hat, sondern es geht um ganz konkrete und zahlreiche Nationen und Völker, die gegenwärtig den eigenen unabhängigen Staaten zugehören und aus dem Prozess der Versöhnung nicht ausgeschlossen werden dürfen. Anderenfalls wird diesen Völkern ein neues Unrecht zugefügt, diesmal – auf der Ebene der historischen Wahrheit, der nationalen Identität und der menschlichen Würde.

Europa muss dem Prozess der Versöhnung dringend neuen Nachdrücklichkeit und neuen Schwung verleihen. Dies wird aber nur dann möglich, wenn ein bilateraler Dialog in der Wahrheit und in der gegenseitigen Wertschätzung zwischen den Völkern und der Staaten initiiert und vorangetragen wird. Sonst werden die Bemühungen um die Versöhnung in Europa vergeblich und fruchtlos.

Renovabis: Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen und Nationalismus und Populismus erstarken, gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Wie könnten die Christen / die Kirchen in Ihrem Land dazu beitragen?

Dzyurakh: Die Halbwahrheiten und die populistischen Methoden des politischen und des gesellschaftlichen Handels werden immer die Spannungen und die Auseinandersetzungen zur Folge haben. Andererseits sehe ich mit Bedauern, wie leicht sich viele Menschen von den skrupellosen Politikern manipulieren und von den oberflächigen Medien einschläfern lassen. Ein weiterer Teil der Gesellschaft distanziert sich bewusst von den schwierigen Themen der Vergangenheit und der Gegenwart, um sich komplett vom Prinzip "carpe diem" leiten zu lassen und die knappe Lebenszeit bedenkenlos zu genießen. In einer solchen Welt, wo Interesse, Gleichgültigkeit und allgemeine Apathie herrschen, nur dann wird neue Hoffnung erscheinen, wenn die spirituellen Werten wie Mitleid und Barmherzigkeit, Solidarität mit den Armen und Gerechtigkeit gegenüber den Unterdrückten ihren zentralen Platz im Denken und im Handeln der Menschen wieder gewinnen werden.

Letztendlich vereinen wir als gläubige Menschen unsere Hoffnung nicht mit den politischen Entscheidungen, sozialen Initiativen oder wirtschaftlichen Reformen. Unsere Hoffnung ruht auf der göttlichen Offenbarung und Verheißung, dass auch in den Zeiten der allgemeinen Verwirrung das Licht der Wahrheit und die Kraft der Liebe stärker bleiben als alle Anstrengungen den Menschen und Strukturen, die vom Egoismus, vom Hass und von der Gewalt geprägt sind. Unsere Hoffnung setzten wir auf Gott, der die notwendige Veränderung der Herzen, Gewohnheiten und Lebensstile (Papst Franziskus, Fratelli tutti, 166) durchführen und dadurch der Menschheit von heute eine neue Perspektive und neue Hoffnung verleihen vermag. Denn nur das Herz, das vom Licht der Wahrheit und vom Geist der Liebe sich verwandeln lässt, wird zum Träger der Hoffnung und der Freude sein.


Bischof Bohdan Dzyurakh  / © Robert Kiderle (KNA)
Bischof Bohdan Dzyurakh / © Robert Kiderle ( KNA )
Quelle:
Ren